Menschen

Autor: Julius Schophoff

Schulbus auf der Gegenfahrbahn

Während einer Klassenfahrt verliert der Busfahrer das Bewusstsein. Ein Lehrer greift beherzt ein und verhindert die Katastrophe.

Stefan Rittger

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©© Maik Kern

Die Aufregung ist groß bei 41 Viertklässlern der Hans-Scholl-Grundschule im bayerischen Burglengenfeld: das erste Mal ins Schullandheim, fünf Tage Bayerischer Wald. Für viele ist es die erste Woche weg von zu Hause. Eine Dreiviertelstunde zuvor haben die Schülerin-nen und Schüler zum Abschied ihre Eltern gedrückt. Die schienen noch aufgeregter zu sein als ihre Kinder. „Keine Sorge“, hatte Stefan Rittger, der 56-jährige Förderlehrer, sie erst ein paar Tage zuvor beim Elternabend beruhigt: „Alles wird gut.“
Nun, am Montagmorgen, den 30. Mai 2022 rollt der Bus über die B 20, Höhe Cham bei Regensburg. Rittger sitzt auf dem Platz hinter dem Fahrer und bespricht mit seinem Nebenmann, einem Sozialpädagogen, die nächsten Stunden: ankommen, Hütten zeigen, Betten beziehen – und dann gleich wandern. Es ist immer gut, das am Anfang zu machen, weil die beiden Klassen, die mitfahren, sich dabei mischen. Rittger trägt bereits Wanderschuhe.

Plötzlich wird Busfahrer Hans am Steuer ohnmächtig 

„Irgendwie geht’s mir nicht so gut“, sagt plötzlich der Busfahrer leise – so, als ob er mit sich selbst spräche. „Kein Problem, Hans“, sagt Rittger zu dem 69-jährigen, „fahr doch mal ran, wir machen eine Pause.“ Aber noch bevor er zu Ende gesprochen hat, sackt Hans zusammen, kippt etwas nach links und zieht dabei das Lenkrad mit.

Stefan Rittger springt zum Fahrer und versucht, den Bus  abzubremsen

Was Stefan Rittger in den nächsten Sekunden tut, ist für ihn bis heute nichts Besonderes. „Man bleibt halt nicht sitzen, sondern tut etwas“, sagt er. Andere sehen das anders. Zeitungsartikel, die Freunde und Kollegen ihm in den Tagen nach dem Unfall zutragen, titeln „Heldentat in Regensburg“, „Lehrer verhindert Katastrophe“, „Der Held aus dem Schulbus“. Immer noch, sagt Rittger, sprechen ihn wildfremde Menschen auf der Straße an, im Baumarkt, beim Feuerwehrumzug, schütteln ihm die Hand, klopfen ihm auf die Schulter. Im Bus muss alles sehr schnell gegangen sein: Abschnallen, nach vorn springen, ans Lenkrad greifen. Doch Rittger schafft es nicht, das Steuer unter dem bewusstlosen Fahrer zu bewegen. Der Bus schlingert Richtung Gegenfahrbahn. Rittger versucht, mit auf die Bremse zu treten – aber im Fußraum ist es viel zu eng. „Da war das Bein des Fahrers – und ich hatte ja meine dicken Wanderschuhe an.“ Kopfüber taucht er hinunter, eine Hand am Steuer, mit der anderen tastet er nach dem Pedal. Mit der Hand auf dem Pedal kann er den Kopf gerade so weit strecken, dass sein Blick noch übers Armaturenbrett reicht: Sie sind auf der Gegenfahrbahn!

200 Meter weit schleift der Bus an der Leitplanke der Gegenfahrbahn entlang

Ein weißer Lieferwagen schießt auf sie zu, schafft es aber auszuweichen und rauscht rechts am Bus vorbei. Soll Rittger versuchen, wieder auf die rechte Spur zu lenken? Zu gefährlich. Der Bus schleift an der linken Leitplanke entlang, wird langsamer. Stefan Rittger presst das Bremspedal und behält zugleich den Gegenverkehr im Blick. Der Fahrer eines schwarzen Mercedes reagiert zu spät. Rittger zieht den Kopf ein und wartet auf den Knall. Die Erschütterung ist schwächer als befürchtet. Als der Bus zum Stehen kommt, hört Rittger die ersten Kinder weinen. Hans, der Busfahrer, kommt plötzlich zu sich und will, halb benommen, den Gang einlegen.

Die nächste Stunde kommt Rittger vor wie zehn Minuten: Er schaltet die Warnblinker an, kümmert sich um den Busfahrer, beruhigt die Kinder, sichert die Unfallstelle, telefoniert mit dem Notarzt, der Schulleitung, dem Busunternehmen. Er spricht auch kurz mit dem Fahrer des Mercedes, der nach dem Aufprall quer über die Fahrbahn schleuderte. „Der Airbag“, stammelt dieser, scheint aber keine Verletzungen zu haben.

41 Kinder und drei Begleitpersonen bleiben unverletzt

Busfahrer Hans wird ins Krankenhaus gebracht, einen medizinischen Grund für seinen Schwächeanfall finden die Ärzte nicht. Die 41 Kinder und drei Begleitpersonen bleiben unverletzt. Rittger und seine mitreisenden Kollegen entscheiden, die Reise fortzusetzen, mit einem Ersatzbus. „Uns ist ja nichts passiert“, sagt der Lehrer. Als sie im Schullandheim ankommen, fällt das Bettenbeziehen erst mal aus, stattdessen gibt es ein Eis. Die Wanderung aber machen sie. Unterwegs hört Rittger einige Schüler darüber sprechen, was wohl passiert wäre, wenn ... Der Lehrer mischt sich sofort ein und lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder auf anderes. „Diesen Gedanken wollte ich gar nicht aufkommen lassen“, sagt er.

In der Nacht findet er keinen Schlaf. Morgens um halb fünf, bevor die Eltern der Kinder die Unfallfotos auf der Titelseite der Lokalzeitung sehen und die Telefone in der Schule permanent klingeln, tritt er mit einem Kaffee aus der Hütte. Er sieht die Sonne über dem Bayerischen Wald aufgehen, macht ein Foto davon – aber diesen Morgen würde er auch so nie vergessen. „Da wurde ich dann schon emotional“, erzählt er. Vielleicht war das der Moment, in dem auch in ihm der Gedanke durchbrach: Was wäre passiert, wenn ...