Menschen

Autor: Annette Lübbers

Er hat die Täterin kurz nach dem Raubüberfall gestellt

Eine alte Frau wird in Herten im Ruhgebiet überfallen. Robert Gabriel sprintet der Räuberin hinterher und hält sie auf.  

Julius Gabriel

©

©© Jens Nieth

Zwei Tage vor Heiligabend 2021 ist es kalt im Norden des Ruhrgebiets. Selbst um die Mittagszeit herrschen nur etwa null Grad. Robert Julius Gabriel aus Hamm jobbt, wie er es gelegentlich tut, für einen Dachdeckermeister aus seiner Heimatstadt. Im Hauptberuf ist der 32-jährige Hausmeister. An diesem Mittwoch sind er und der Inhaber des Dachdeckerbetriebs im knapp 60 Kilometer entfernten Herten im Einsatz. Beide Männer tragen dicke, warme Kleidung und Mützen. Gerade inspizieren sie das Mauerwerk einer Garage. „Das muss definitiv abgedichtet werden“, sagt der Chef. „Geh doch mal zum Auto, wir brauchen den Eimer mit der Flüssigabdichtung.“
Ihren Pritschenwagen haben sie ein paar Meter weiter auf der Straße abgestellt, auf der Ladefläche stehen die Arbeitsmaterialien bereit. Robert Gabriel ist nur noch ein paar Schritte vom Fahrzeug entfernt, als er aufhorcht. Da war doch was? Der 32-Jährige bleibt stehen, schiebt die Mütze von seinen Ohren und lauscht. Tatsächlich, da ist eine Stimme. Sie klingt leise und schwach. „Hilfe“. Und noch einmal: „Hilfe.“

Die Seniorin verteidigt ihr Hab und Gut, aber die Diebin lässt nicht locker

Gabriel läuft um den Pritschenwagen herum. Da, keine zehn Meter von ihm entfernt, bedrängt eine junge Frau eine ältere Dame. Die Seniorin ist klein, ihre Haltung gekrümmt. Sie trägt einen schweren Wintermantel und hat den Riemen ihrer Handtasche über Brust und Schulter geschlungen. Die andere Frau ist jung. Sie ist mit schwarzen Jeans und schwarzer Winterjacke bekleidet. Mit beiden Händen hat sie die Handtasche der älteren Frau gepackt, diese verteidigt verzweifelt ihr Hab und Gut. Aber die Jüngere lässt nicht locker, mit aller Kraft zerrt sie an der Tasche. Wortlos schwanken die beiden hin und her.

Bevor Gabriel der Seniorin zu Hilfe kommen kann, reißt der Lederriemen der Tasche. Die Frau versucht mit rudernden Armen das Gleichgewicht zu halten. Vergeblich. Sie taumelt, stürzt und schlägt mit dem Gesicht auf dem Asphalt auf. Die Räuberin läuft derweil mit der Tasche davon, ohne sich um die Frau zu kümmern. Gabriel zögert einen Moment. Soll er der jungen Frau hinterherlaufen oder sich erst um die Gestürzte kümmern? Er entscheidet sich. „Komm her!“, schreit er in Richtung seines Kollegen. „Und ruf die Polizei.“ Dann setzt er der Räuberin nach. Aus den Augenwinkeln sieht er noch, wie der Dachdeckermeister der alten Dame zu Hilfe eilt. 

Robert Gabriel setzte der Räuberin nach und hatte sie rasch eingeholt

Stopp, bleiben Sie stehen“, ruft er hinter der Räuberin her. Doch die läuft weiter und schreit dabei Unverständliches in seine Richtung. Gabriel holt rasch auf. 25 Meter trennen ihn von der Frau in Schwarz, 20 Meter, 15 Meter. Auf der anderen Straßenseite steht ein Passant. „Polizei. Rufen Sie die Polizei!“, ruft Gabriel ihm zu. Dann hat er die junge Frau erreicht, packt sie, zwingt sie stehenzubleiben. Sie versucht, sich loszureißen, dabei zischt sie ihn an: „Wer bist du? Lass mich in Ruhe!“ „Schön hiergeblieben“, entgegnet Gabriel. Eisern umklammert er ihre Arme, marschiert so mit ihr die Straße wieder hinunter. Die Räuberin dreht und windet sich. Es hilft ihr nichts.

Die alte Dame ist völlig verstört und blutet im Gesicht

Gabriels Chef hat derweil der alten Dame aufgeholfen. Sie zittert am ganzen Körper, stammelt etwas vor sich hin. Gabriel kann die Worte nicht verstehen. Sie wirkt zutiefst verstört. Auf der Stirn hat sie blutende Schürfwunden. Sie kann kaum stehen, der Dachdeckermeister muss sie stützen. Derweil benötigt der 32-Jährige seine ganze Kraft, um die Räuberin zu bändigen. „Ich wollte das nicht tun. Ich habe getrunken“, jammert sie und windet sich weiter. Dann fängt sie an zu weinen, reicht ihrem Opfer die Handtasche zurück. „Ich lass Sie jetzt los“, sagt Gabriel. „Aber vorher geben Sie mir Ihren Personalausweis.“ Widerwillig kramt die junge Frau den Ausweis aus der Jackentasche. 

Ein Straßenraub wegen einer solch kleinen Summe! 

Nach etwa zehn Minuten fährt ein Streifenwagen vor. Zwei Beamte steigen aus und nehmen die noch immer jammernde Diebin in Gewahrsam. Einer der Polizisten führt sie zum Wagen und reicht ihr das Alkoholtestgerät. Sein Kollege fragt die alte Dame nach ihrem Ausweis.  Deren Hände zittern noch so stark, dass sie ihre Tasche nicht öffnen kann. Gabriel übernimmt dies für sie und sucht auch den Ausweis heraus. Dieser steckt im Portemonnaie, und so sieht Gabriel, dass die alte Dame gerade einmal 20, 30 Euro bei sich trägt. Ein Straßenraub wegen einer solch kleinen Summe!

Der Polizist fragt nach seinem Ausweis. „Den habe ich nicht dabei“, sagt Gabriel und gibt dem Beamten Name und Anschrift. „Danke für Ihre Hilfe“, sagt der Polizist. „Das ist doch selbstverständlich“, entgegnet der Retter. Ein paar Wochen später macht er seine Aussage vor Gericht. Die Beklagte ist zur Verhandlung nicht erschienen. Wie das Urteil schließlich lautete, weiß Gabriel nicht. Er ist nur froh darüber, dass sie zur Rechenschaft gezogen wurde und ihr Opfer beim Sturz keine schweren Verletzungen erlitten hat.