Menschen

Autor: Olivier Van Caemerbèke

Unverhofft Geburtshelfer

Ein Kurierfahrer leistet in einem Vorort von Paris mitten auf der Straße Erste Hilfe bei der Geburt eines kleinen Jungen.
Der kleine Rabah, sein Geburtshelfer Rabah Soltani und Laurence, die Mutter des Kindes
Rabah Soltani, der den kleinen Rabah auf dem Arm hält und Laurence, die Mutter des Babys.

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©Joanna Tarlet Gauteur/Signatures

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Was ist da vorn los? Am 5. Februar 2024 kehrt Rabah Soltani kurz vor 18 Uhr von einer Fahrt in Aulnay-sous-Bois, einem Vorort der französischen Hauptstadt Paris, zurück. Der 45-jährige Kurier­fahrer steht mit seinem Motorroller in der Straße Jean-Charcot an einer roten Ampel. Er beobachtet eine Frau, die etwa 150 Meter vor ihm schwankend die Straße überquert. „Ihr geht es wohl nicht gut“, denkt er. Auf dem schmalen Grünstreifen zwischen den beiden Fahrbahnen kauert sich die Frau plötzlich hin – die fünf Schritte bis zum Bürgersteig schafft sie wohl nicht mehr.Autos rasen an ihr vorbei, niemand beachtet sie. Haben die Fahrer kein Herz oder etwa Angst, sie stünde unter Drogen? Soltani stellt sich diese Frage nicht. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragt er, als er neben ihr anhält.

„Ich habe starke Wehen, ich glaube, die Geburt hat schon eingesetzt, das Kind kommt!“ Vor einer halben Stunde war Laurence *, 34, die in einem Nachbarort wohnt, zu einem Spaziergang aufgebrochen. Durch die Bewegung sollte das Kind tiefer ins Becken rutschen und so die Geburt erleichtern, die für den nächsten Tag errechnet war. „Lassen Sie mich nicht allein!“, fleht die Schwangere. „Keine Sorge. Es wird alles gut“, versichert Soltani ihr und fügt wohl auch zu seiner eigenen Beruhigung hinzu: „Ich war früher bei der Feuerwehr.“ Später wird der Algerier Rabah Soltani der jungen Mutter erzählen, dass er mehr als 15 Jahre bei der Feuerwehr gearbeitet hat, bevor er 2018 nach Frankreich kam. Hier kann er seinen alten Beruf nicht ausüben, weil er illegal eingereist ist. Er hat einen Antrag bei der Präfektur gestellt und wartet auf die Aufenthaltsgenehmigung.

Der Kurier stützt Laurence und führt sie bis zum Bürgersteig. Um 17.53 Uhr ruft er bei der Polizei an. Nachdem sich dort niemand meldet, versucht er es bei der Feuerwehr. Sie bombardieren ihn mit Fragen, die er nicht alle beantworten kann: „Ja, sie ist bei Bewusstsein … nein, sie blutet nicht … nein, ich weiß nicht, ob es ihr erstes Kind ist.“ Sobald die Mitarbeiter der Rettungszentrale sicher sind, dass es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt, versprechen sie, ein Fahrzeug zum ange­gebenen Standort zu schicken. Dann geht alles ganz schnell. Die Wehen werden stärker, die Fruchtblase platzt. Die Gebärende lässt sich auf alle Viere nieder. „In dieser Position geht es mir am besten“, flüstert sie. Es ist sechs Grad kalt. Soltani zieht seine Jacke aus und legt sie der keuchenden Frau um. Kurz darauf erscheint das Köpfchen des Babys.

Rabah Soltani ist Vater von drei Kindern. In seinem früheren Beruf ist er sprichwörtlich durchs Feuer gegangen. Er hat Erfahrung mit schwierigen Situationen und verliert nicht leicht die Nerven. Doch er hätte nie gedacht, jemals so etwas zu erleben. Soltani zieht seine Weste aus, um das Neugeborene darin aufzufangen. Laurence hat drei weitere Presswehen, dann eine vierte. Das Baby ist da! Soltani vergewissert sich, dass die Nabelschnur nicht um dessen Hals geschlungen ist. Dann wickelt er das Neugeborene in seine Weste.Zwei Autos halten an. Ein Fahrer reicht ihm ein Handtuch, ein anderer eine Decke. Eine etwa 20-jährige Passantin kniet sich neben die Mutter und redet ihr gut zu, während Soltani das Neugeborene wärmt.
Die Sanitäter der Feuerwehr treffen ein und durch­trennen die Nabelschnur. Soltani trägt das Baby zum Rettungs­wagen, in dem es gemeinsam mit Laurence abtransportiert wird. Das Ganze hat keine 15 Minuten gedauert. Der Kurierfahrer bleibt benommen allein auf dem Bürgersteig zurück. Als Rabah Soltani endlich zu Hause ankommt, fragt ihn seine Frau Nacera entsetzt: „Hattest du einen Unfall?“ Seine Kleidung ist blutverschmiert. „Nein“, beruhigt er sie. „Ich habe einer Frau geholfen, ihr Baby auf die Welt zu bringen.“ Er zeigt ihr ein Foto, das die junge Passantin von ihm mit dem Neu­geborenen gemacht hat. „Ist ja verrückt!“, ruft seine Frau begeistert. „Gib mir die Telefonnummer der Mutter, ich rufe sie gleich an.“ „Ihre Nummer? Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt.“

Am nächsten Morgen fährt Rabah Soltani zur Feuerwehr. Dort teilt man ihm mit, in welche Geburtsklinik Laurence gebracht wurde. „Da sind Sie ja!“, ruft die Mitarbeiterin am Empfang im Krankenhaus Jean-Verdier, als er dort ankommt. „Die Mutter sucht Sie seit gestern Abend!“ „Ich freute mich sehr, Rabah wiederzusehen, denn ich konnte mich nicht gleich bei ihm bedanken“, erzählt Laurence. Die Mutter und Hausfrau aus Kamerun hat bereits einen zwölfjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter. „Mein Kind hat ihm sein Leben zu verdanken. Er hat es gewärmt und die Feuerwehr gerufen.“

Laurence und ihr Mann wollten ihren kleinen Jungen eigentlich Timéo nennen, und in der Geburtsklinik wurde er auch bereits von allen so genannt. Doch bei der Eintragung in die Geburtsurkunde änderten sie ihre Meinung. „Der Kleine heißt Rabah“, sagt die Mutter. „Der Name wird ihm Glück bringen.“

* Nachname ist der Redaktion bekannt