Unverhofft Geburtshelfer
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„Ich habe starke Wehen, ich glaube, die Geburt hat schon eingesetzt, das Kind kommt!“ Vor einer halben Stunde war Laurence *, 34, die in einem Nachbarort wohnt, zu einem Spaziergang aufgebrochen. Durch die Bewegung sollte das Kind tiefer ins Becken rutschen und so die Geburt erleichtern, die für den nächsten Tag errechnet war. „Lassen Sie mich nicht allein!“, fleht die Schwangere. „Keine Sorge. Es wird alles gut“, versichert Soltani ihr und fügt wohl auch zu seiner eigenen Beruhigung hinzu: „Ich war früher bei der Feuerwehr.“ Später wird der Algerier Rabah Soltani der jungen Mutter erzählen, dass er mehr als 15 Jahre bei der Feuerwehr gearbeitet hat, bevor er 2018 nach Frankreich kam. Hier kann er seinen alten Beruf nicht ausüben, weil er illegal eingereist ist. Er hat einen Antrag bei der Präfektur gestellt und wartet auf die Aufenthaltsgenehmigung.
Der Kurier stützt Laurence und führt sie bis zum Bürgersteig. Um 17.53 Uhr ruft er bei der Polizei an. Nachdem sich dort niemand meldet, versucht er es bei der Feuerwehr. Sie bombardieren ihn mit Fragen, die er nicht alle beantworten kann: „Ja, sie ist bei Bewusstsein … nein, sie blutet nicht … nein, ich weiß nicht, ob es ihr erstes Kind ist.“ Sobald die Mitarbeiter der Rettungszentrale sicher sind, dass es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt, versprechen sie, ein Fahrzeug zum angegebenen Standort zu schicken. Dann geht alles ganz schnell. Die Wehen werden stärker, die Fruchtblase platzt. Die Gebärende lässt sich auf alle Viere nieder. „In dieser Position geht es mir am besten“, flüstert sie. Es ist sechs Grad kalt. Soltani zieht seine Jacke aus und legt sie der keuchenden Frau um. Kurz darauf erscheint das Köpfchen des Babys.
Rabah Soltani ist Vater von drei Kindern. In seinem früheren Beruf ist er sprichwörtlich durchs Feuer gegangen. Er hat Erfahrung mit schwierigen Situationen und verliert nicht leicht die Nerven. Doch er hätte nie gedacht, jemals so etwas zu erleben. Soltani zieht seine Weste aus, um das Neugeborene darin aufzufangen. Laurence hat drei weitere Presswehen, dann eine vierte. Das Baby ist da! Soltani vergewissert sich, dass die Nabelschnur nicht um dessen Hals geschlungen ist. Dann wickelt er das Neugeborene in seine Weste.Zwei Autos halten an. Ein Fahrer reicht ihm ein Handtuch, ein anderer eine Decke. Eine etwa 20-jährige Passantin kniet sich neben die Mutter und redet ihr gut zu, während Soltani das Neugeborene wärmt.
Die Sanitäter der Feuerwehr treffen ein und durchtrennen die Nabelschnur. Soltani trägt das Baby zum Rettungswagen, in dem es gemeinsam mit Laurence abtransportiert wird. Das Ganze hat keine 15 Minuten gedauert. Der Kurierfahrer bleibt benommen allein auf dem Bürgersteig zurück. Als Rabah Soltani endlich zu Hause ankommt, fragt ihn seine Frau Nacera entsetzt: „Hattest du einen Unfall?“ Seine Kleidung ist blutverschmiert. „Nein“, beruhigt er sie. „Ich habe einer Frau geholfen, ihr Baby auf die Welt zu bringen.“ Er zeigt ihr ein Foto, das die junge Passantin von ihm mit dem Neugeborenen gemacht hat. „Ist ja verrückt!“, ruft seine Frau begeistert. „Gib mir die Telefonnummer der Mutter, ich rufe sie gleich an.“ „Ihre Nummer? Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt.“
Am nächsten Morgen fährt Rabah Soltani zur Feuerwehr. Dort teilt man ihm mit, in welche Geburtsklinik Laurence gebracht wurde. „Da sind Sie ja!“, ruft die Mitarbeiterin am Empfang im Krankenhaus Jean-Verdier, als er dort ankommt. „Die Mutter sucht Sie seit gestern Abend!“ „Ich freute mich sehr, Rabah wiederzusehen, denn ich konnte mich nicht gleich bei ihm bedanken“, erzählt Laurence. Die Mutter und Hausfrau aus Kamerun hat bereits einen zwölfjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter. „Mein Kind hat ihm sein Leben zu verdanken. Er hat es gewärmt und die Feuerwehr gerufen.“
Laurence und ihr Mann wollten ihren kleinen Jungen eigentlich Timéo nennen, und in der Geburtsklinik wurde er auch bereits von allen so genannt. Doch bei der Eintragung in die Geburtsurkunde änderten sie ihre Meinung. „Der Kleine heißt Rabah“, sagt die Mutter. „Der Name wird ihm Glück bringen.“
* Nachname ist der Redaktion bekannt





