Menschen

Autor: Lisa Fitterman

Zuvor noch die Welt sehen

Familie Pelletier bereist die Welt, bevor 3 ihrer 4 Kinder das Augenlicht durch eine seltene genetische Erkrankung verlieren.

Die Kinder der Familie Pelletier in Namibia

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©mit freundlicher Genehmigung von Familie Pelletier

Fish River Canyon in Namibia, im Südwesten Afrikas. Laurent Pelletier starrt mit offenem Mund auf die Laubheuschrecke, die vor ihm auf dem Picknicktisch gelandet ist. Das gelbe und knallgrüne, fleischfressende Insekt hat einen Kragen aus spitzen Stacheln sowie sechs staksige Beine. Es ist so groß wie die Hand des Fünfjährigen. „Kann man die essen?“, fragt er seine Mutter Edith Lemay. „Ich glaube nicht“, sagt sie und lacht. „Kann ich sie mitnehmen?“ „Nein, du wirst noch viele sehen.“
Und so war es. In den ersten Monaten der Reise, die ihn, seine Eltern und seine drei älteren Geschwister Mia, zwölf, Léo, zehn, und Colin, sieben, ein Jahr lang durch Afrika, Asien und den Nahen Osten führte, sah Laurent immer wieder Heuschrecken: Laubheuschrecken, Bodenheuschrecken, Babyheuschrecken und solche, deren Zirpen sie nachts in den Schlaf wiegte. Sie wurden zu Glücksbringern und gehörten zu den vielen Eindrücken, die die Kinder in Farbe und echt erlebten. Erinnerungen, die sich tief einprägten: Sie ritten über die hellgrüne Grassteppe der Mongolei, paddelten mit dem Kajak auf dem azurblauen Meer vor Kambodscha, zelteten unter den hoch aufragenden ziegelroten Bergspitzen Namibias und fuhren mit dem Heißluftballon über die zerklüftete Mondlandschaft der Türkei. Fernab von ihrem Zuhause in Boucherville, in der kanadischen Provinz Quebec, waren diese Farben, Formen, Berührungen und Gerüche für die Kinder von unschätzbarem Wert. Wenn der Forschung nicht bald ein Durchbruch gelingt, werden Mia, Colin und Laurent als Erwachsene wahrscheinlich völlig erblinden. Sie haben eine unheilbare Krankheit, die zum allmählichen Verlust der Sehfähigkeit führt.

Der lange Weg zur Diagnose 

Erst als Mia, das älteste Kind von Edith Lemay und Sébastien Pelletier, sieben war, erhielten die Eltern die erschütternde Diagnose. Zuvor hatten sie auf einer jahrelangen Ärzte-Odysee herauszufinden versucht, warum ihr ältestes Kind im Alter von drei Jahren nachts gegen Möbel stieß, die ihre Eltern erkannten, sobald sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Familie ging von einem Arzt zum anderen, aber keiner konnte die Nachtblindheit von  Mia erklären. Schließlich meldete ein Kinderaugenarzt die Familie 2015 zu einem Forschungsprojekt an, bei dem ihr gesamtes Genom kartiert wurde. Nach zwei langen Jahren war die Kartierung abgeschlossen. Der Arzt teilte ihnen ohne Umschweife die Diagnose mit. „Es handelt sich um Retinitis pigmentosa, mit einer Mutation im Gen PDE6B“, sagte er. Das Gen wurde von beiden Eltern vererbt, die nicht wussten, dass sie Träger sind.

Retinitis pigmentosa umfasst eine Gruppe von rund 50 vererbbaren genetischen Mutationen. Sie betreffen die Netzhaut im hinteren Teil des Auges, die uns die Welt in Schwarz-Weiß und in Farbe wahrnehmen lässt. Die Zellen am Rand, die sogenannten Stäbchen, ermöglichen das Sehen im Dunkeln und am Rand des Gesichtsfelds. Diese sterben zuerst ab. Später folgen die Zellen in der Mitte, die Zapfen, die für das Farbensehen und für alltägliche Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Auto-fahren benötigt werden. „Derzeit gibt es keine Heilung“, fuhr der Arzt fort. Von dieser Nachricht überwältigt stand Edith auf, entschuldigte sich, verließ das Zimmer und schloss sich auf der Toilette ein. „Ich kann doch nicht vor Mia weinen“, dachte sie. Ihre kleine Tochter würde das nicht verstehen. Als Edith ins Sprechzimmer zurückkehrte, besprachen sie gemeinsam die nächsten Schritte. Edith und Sébastien überlegten, eine zweite Meinung einzuholen. Doch sie wussten, dass die Ergebnisse eindeutig waren: Die Krankheit würde zu dauerhaften Beein­trächtigungen führen. Bald sollten die Tests zeigen, dass nur Léo, ihr ältester Sohn, die Mutation nicht hatte. „Alles, was wir uns für unsere Kinder erhofft hatten, für ihre Zukunft, was aus ihnen werden könnte, ergibt keinen Sinn mehr“, sagte Edith, als sie ihren Mann eines Abends unter Tränen umarmte. „Wie werden sie zurechtkommen?“ Sollten sie Mia erklären, was ihre Krankheit bedeutete? Oder sollten sie ihre Tochter so lange wie möglich Kind sein lassen?

Wie geht man mit dieser Krankheit um?

Ein paar Wochen später rutschte es einfach heraus. Beim Mittagessen sprachen sie über Behinderungen im All­gemeinen. „Weißt du, wenn du mal erwachsen bist, wirst du wahrscheinlich blind“, sagte Edith zu Mia. So unverblümt hatte Edith es ihrer Tochter eigentlich nicht eröffnen wollen, aber jetzt war es gesagt. Sie hielt den Atem an. Wie würde Mia reagieren? „Oh, das ist nicht lustig“, sagte die Siebenjährige und redete dann von etwas anderem. Noch in derselben Woche kam Mia zu ihr und sagte, sie müsse ihr Zimmer von nun an besonders gut aufräumen. „Ich muss jetzt immer wissen, wo die Sachen sind“, erklärte Mia. Edith und Sébastien beobachteten, wie sich ihre Tochter unaufgefordert mit geschlossenen Augen durch die Räume tastete, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, sich blind zurechtzufinden, die Treppe hinauf und hinunter, durch die Küche und das Wohnzimmer. Mit den Fingerspitzen prägte sie sich die Formen ein. „Sie wird sich zurechtfinden“, sagten sie sich.

Ein Jahr lang unterwegs mit den Kindern

Da entstand die Idee zu einer einjährigen Reise, auf der die Kinder die Welt kennenlernen würden: windgepeit­schte Landschaften, Wasserfälle, Warzenschweine, nicht aus Bilderbüchern und im Schulunterricht, sondern hautnah. Eine Reise, die das Leben in seiner ganzen Fülle zeigen würde – während die Kinder noch sehen konnten.

Als Edith und Sébastien ihren Kindern im Frühjahr 2020 zum ersten Mal von ihrem Plan erzählten, schauten sie ihre Eltern verständnislos an. Ein Jahr ohne Schule, ohne ihre Großeltern und Freunde? 

Edith und Sébastien arbeiteten weiter – sie in der Gesundheitslogistik, er in einem Finanzunternehmen. Sie legten Geld zur Seite, recherchierten zu Reisezielen und fragten die Kinder, was sie auf ihrer großen Reise machen wollten. Mia wollte auf einem Pferd reiten, Colin mit einem Nachtzug fahren. Laurent würde gern auf einem Kamel reiten und Léo wollte Pokémon-Attraktionen in Japan sehen.

Die Reise ihres Lebens beginnt 

Anfang 2022 war es soweit. Edith und Sébastien kündigten ihre Arbeit, vermieteten ihr Haus für ein Jahr und stellten Schulbücher zusammen, mit denen die Kinder mehrmals in der Woche Französisch und Mathematik lernen sollten. Den Rest der Zeit würden sie von der Welt um sie herum lernen – dem besten Lehrer überhaupt. Mit vier Kindern zu reisen, würde einiges kosten. Sie wollten sparen, indem sie zelteten, in Herbergen und Gästehäusern oder in einer mongolischen Jurte aus Ziegenfell übernachteten. Am Montag, 21. März 2022, flogen sie ohne feste Reiseroute von Montreal los. Sie wussten nur, dass sie zunächst von der Südwestküste Afrikas von Namibia über Botswana nach Osten bis nach Tansania fahren wollten. Dort würden sie spontan weitere Pläne schmieden. „Kinder sehen die Welt ganz anders als Erwachsene, das wollten wir respektieren“, sagt Edith. „Das war uns von Anfang an klar. Es ging nicht um Sehenswürdigkeiten, sondern um das, was ihr Interesse wecken würde.“

Manchmal hörten sie eine Kako­fonie, wie auf der 24-stündigen Zugfahrt durch Tansania, bei der Bananenverkäufer ihre Ware lauthals anpriesen. Manchmal waren es Flüstertöne oder die fast andächtige Stille des Deadvlei in Namibia. Einst ein Sumpf, ist die Ebene heute völlig ausgetrocknet. Vor ihren bis zu 400 Meter hohen Sand­dünen heben sich Baumstämme wie schwarze Skelette gegen den wolken­losen Himmel ab. In Botswana sangen die Kinder mit den Schulkindern Klatschreime, in Tansania tanzten sie mit Massaikriegern und übernachteten auf einer Bananenfarm. In Thailand streichelte Mia einen Elefanten und rief überrascht aus, wie rau er sich anfühlte. Im Norden Kambodschas schwang der sonst so schüchterne Colin wie ein kleiner Pirat das Holzschwert, das ein Reiseführer aus einem Stück Mahagoni schnitzte, das sie gefunden hatten. Jeden Tag beobachteten Edith und Sébastien, wie sich ihre Kinder körperlich und seelisch veränderten. Mia brauchte an der Schwelle zur Pubertät mehr Unabhängigkeit. Sowohl Léo als auch Colin wurden selbstbewusster und kontaktfreudiger, hatten keine Angst, mit Fremden zu reden, mit Einheimischen Fußball zu spielen oder neue Lebensmittel zu kosten, wie die roten Ameisen in Laos, die sie unter einem Baum aufsammelten. „Sie schmecken wie Zitronen“, sagten die Kinder wie aus einem Mund.

"Es ist wie mit geschlossenen Augen"

Die Familie war ein eingeschworenes Team, vor allem, wenn sie mit schwierigen Situationen konfrontiert wurde. Als sie zum Beispiel in Kambodscha an Dörfern vorbeikam, die während des Völkermords der Roten Khmer in den späten 1970er-Jahren sogenannte Killing Fields gewesen waren. Ihr Reiseführer erzählte, wie er als Säugling wahrscheinlich von seinen Eltern im Wald ausgesetzt worden war, um ihn vor den Henkern zu verstecken. Edith und Sébastien hielten ihre Kinder fest in den Armen. Sie wollten ihnen zeigen, dass sie in Sicherheit waren. Aber sie hatten auch viel Spaß, wie am 1. Juli, als sie mit einer Heißluftballonfahrt Laurents fünften Geburtstag feierten. Oder im Januar bei den Tad Fane Wasserfällen in Laos, wo die Familie an einer Stahlschnur über eine Schlucht sauste.

Nur selten sprachen sie über den Anlass ihrer Reise, mit einer Ausnahme: Als sie in der Mongolei auf einer staubigen Landstraße unterwegs waren, fragte Laurent, von dem sie dachten, er wisse nichts von der Krankheit: „Wie ist es, blind zu sein? Wie werde ich über die Straße gehen? Werde ich Auto fahren können?“ „Es ist wie mit geschlossenen Augen“, sagte Edith. „Das wird langsam geschehen, über viele Jahre.“ Die Welt werde anders sein. Nichts würde sie daran hindern, die meisten Dinge zu tun, wie Skifahren, Schwimmen oder Forscher zu werden, vielleicht um ihre Krankheit zu heilen. Laurent nickte, dann vertiefte er sich wieder in sein Spiel, um sich die Zeit zu vertreiben. Als die Reise Anfang 2023 zu Ende ging, hatte die Familie 83 700 Kilometer zurückgelegt und 13 Länder bereist. Auf die Frage, was sie über die Welt und sich selbst gelernt hatten, sagt Colin: „Es gibt viel Leid und Armut, aber auch viel Gutes und viele interessante Dinge. Kinder sind überall Kinder, genau wie wir, aber mit ihren eigenen Bräuchen.“

Léo antwortet weniger philosophisch: „Ich mag keine Durian“, sagt er und rümpft angewidert die Nase bei dem Gedanken an die stachlige Frucht, die er in Indonesien probiert hatte. Sie riecht nach faulen Eiern und verschimmelten Zwiebeln. Aber das hat seine Reiselust nicht getrübt. Mia sagt: „Es war wunderbar. Wir werden uns für den Rest unseres Lebens an das Jahr erinnern.“

Die Krankheit Retinitis pigementosa

Weltweit leidet einer von 3500 Menschen unter Retinitis pigementosa. Früher galt die Krankheit als unheilbar. Doch in den letzten 20 Jahren erzielte die Forschung große Fortschritte. Für die Mutation der Kinder der Familie Pelletier gibt es zwar noch keine Heilung, doch eine andere Mutation, RPE65, kann inzwischen geheilt werden. Hierbei wird das Mittel hinter die Netzhaut injiziert. „Dies hat der Forschung eine klare Richtung für die Behandlung vorge­geben“, so Dr. Robert Koenekoop, Kinderaugenarzt in Montreal, Kanada. Bislang kann das Fortschreiten der Krankheit in vielen Fällen vorüber­gehend verlangsamt werden, indem regelmäßig Antioxidantien wie Vitamin A und Omega-3-Fettsäuren injiziert werden. 2022 ergaben zwei Studien unabhängig voneinander, dass Akupunktur das Sehvermögen erhöhen kann, möglicherweise durch eine verbesserte Durchblutung der Netzhaut.

„Was die Fortschritte bei der Behandlung angeht, wird es jetzt richtig spannend. Die Chancen stehen gut, dass den drei Kindern geholfen werden kann“, so Dr. Koenekoop.

Edith und Sébastien wissen, dass es einen Hoffnungsschimmer gibt. Aber sie beschäftigen sich kaum damit, weil sie wollen, dass ihre Kinder ein erfülltes Leben führen, egal ob mit oder ohne Augenlicht. Die einjährige Reise hat sie darin bestärkt, was Mia ihnen vor all den Jahren schon gezeigt hat, als sie sich mit geschlossenen Augen durchs Haus bewegte: Sie werden ihren Weg finden. „Heute sehe ich gut, und ich werde das Beste daraus machen“, sagt Mia. „Wir schaffen das.“