Zwischen Leben und Tod auf der Eisenbahnbrücke

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Es ist fünf Uhr, als an diesem Sonntagmorgen im Juni 2019 in der Dienststelle der Bundespolizei Kassel das Telefon klingelt. Hinter Polizeioberkommissar Dirk Sander liegt eine ruhige Nacht. Mit der Ruhe ist schlagartig Schluss, denn die Information der Leitstelle der hessischen Landespolizei lautet: „Von der Eisenbahnbrücke an der Kohlenstraße wird berichtet, dass dort eine Frau – wohl in suizidaler Absicht – hinter dem Geländer sitzt.“
Sanders Dienststelle liegt nur wenige Fahrminuten von der Brücke entfernt. Sander und ein Kollege eilen zu ihrem Dienstfahrzeug. Mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn, rasen sie auf der vierspurigen Straße Richtung Eisenbahnbrücke. Um diese Uhrzeit herrscht kaum Verkehr. Rasch sind die Beamten vor Ort. Sie schalten das Blaulicht aus und rollen langsam auf die Brücke. Sie wollen die Frau nicht erschrecken. Diese sitzt etwa in der Mitte der Brücke jenseits des Geländers. Eine einsame, kräftige Gestalt. Die Polizisten nähern sich behutsam. Sander fühlt sich ein wenig unsicher. Für den 43-Jährigen ist es der erste Einsatz dieser Art. Die Brücke ist zwar nur sechs bis sieben Meter hoch, aber direkt unter der Frau verlaufen die Hochspannungsleitungen der Eisenbahn. 15.000 Volt schießen durch die Drähte. Einen Sturz an dieser Stelle überlebt niemand. Mit gekreuzten Beinen kauert die Frau auf dem etwa einen Meter breiten Betonabsatz, den Rücken am Geländer. Sie trägt nur Jeans und T-Shirt.
Die Frau rutscht Richtung Kante, schreit und schluchzt.
Sie wendet ihr Gesicht den Beamten zu. Sander schätzt die Frau auf 30 bis 35 Jahre. Ihr Antlitz ist aufgedunsen, sie hat geweint. In einer Hand hält sie eine Bierflasche, zwei leere Flaschen liegen neben ihr. „Können wir Ihnen helfen?“, spricht Oberkommissar Sander sie an. „Kommen Sie ja nicht näher“, entgegnet die Frau und rutscht ein wenig vor, Richtung Kante. „Was ist geschehen? Warum sitzen Sie hier?“, fragt Sander. „Mein Mann hat mich aus der Wohnung geworfen. Ich werde meine Kinder nie wiedersehen“, schreit die Frau. Dann sinkt sie schluchzend in sich zusammen – und rutscht erneut einige Zentimeter nach vorn. Auch wenn er noch nie in einer solchen Situation war, Sander ist bewusst: „Ich muss versuchen, das Gespräch in Gang zu halten.“
„Gehen Sie weg!“, schreit die Frau und rutscht noch näher an die Kante
Sein Kollege zieht sich zurück, ruft den Rettungswagen und hält per Funk die Dienststelle auf dem Laufenden. Während Sander beruhigend auf die Frau einredet, sitzt diese mal apathisch da, dann wieder schreit sie „Gehen Sie weg!“ Währenddessen rutscht sie immer näher an die Kante. Wenn Sander jetzt seinen Arm durch die Gitterstäbe strecken würde, könnte er sie schon nicht mehr greifen. Nach etwa zehn Minuten nähern sich drei Kollegen der Landespolizei. Ganz langsam. Ganz vorsichtig. Eine Beamtin spricht die Lebensmüde an, beginnt mit leiser Stimme ein Gespräch. Die Frau wendet sich ihr zu und von Sander ab.
Dieser trifft eine Entscheidung. Er sprintet die wenigen Meter zum Einsatzfahrzeug, legt seinen schweren Gürtel samt Waffe ab, zieht sich die Schutzweste vom Körper und wirft alles ins Auto. Nichts davon kann er brauchen bei dem, was er vorhat. Ein Klirren von Stahl auf Stahl? Wer weiß, wie die Frau reagiert. Er läuft zurück. Der Oberkommissar hat keine Zeit, sein Vorgehen mit der Kollegin abzusprechen. Er kann nur hoffen, dass sie weiterspricht und die Frau ablenkt. Vorsichtig lehnt er seinen Oberkörper über das Geländer, schwingt die Beine hinterher. Ein paar lautlose Schritte bringen ihn ganz nah an die Frau. Mit der linken Hand greift er das Geländer, mit der rechten packt der die Frau am Hals, drückt sie kräftig Richtung Geländer. „Was machen Sie da? Sie tun mir weh“, schreit sie überrascht, aber darauf kann Sander keine Rücksicht nehmen. Er schätzt die Lebensmüde auf gut 100 Kilogramm. Mit einem Arm wird er sie nicht halten können, wenn sie sich jetzt noch entscheidet, zu springen.
Beide Kollegen packen die Frau, ziehen sie weg vom Geländer
Doch in diesem Moment packt auch ein Kollege der Landespolizei die Frau von hinten. Gemeinsam gelingt es den Männern, sie über das Geländer zu ziehen. Vorsichtig führen die Beamten die nun haltlos Weinende zum Streifenwagen, hüllen sie in eine wärmende Decke. Anschließend bringen die Landespolizisten die Gerettete in eine psychiatrische Klinik. Dirk Sander atmet auf. Der Oberkommissar ist froh, dass er nicht miterleben musste, wie die Frau in den Tod springt. Für seinen mutigen Einsatz verleiht ihm das Land Hessen später die Rettungsmedaille.
Einige Wochen nach den Ereignissen auf der Eisenbahnbrücke absolvieren Sander und seine Dienstgruppe eine sogenannte Erstsprecherschulung bei einer Psychologin. „Sollte ich in einer ähnlichen Situation noch einmal vor Ort sein, dann hoffe ich, besser vorbereitet zu sein“, sagt er bescheiden.