Alpine Wildnis: Nationalpark Berchtesgaden
Der Nationalpark Berchtesgaden beherbergt ein schroffes Naturparadies, über dem ganz besondere Vögel kreisen: Bartgeier

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Die Dorfkirche St. Sebastian in Ramsau ist ein Postkartenmotiv. Am Horizont hohe Berge, daneben ein Wildbach mit Holzsteg, darüber spannt sich ein bayerischer weiß-blauer Himmel. „Willkommen im Bergsteigerdorf“, steht auf einem Schild am Ortseingang. Wer hierher keine festen Schuhe mitbringt, ist selber schuld. „Das Vollkornbrot mit Hirse und Hanf bleibt länger saftig“, erklärt die Verkäuferin in der Bäckerei, während draußen eine Blaskapelle Richtung Oberwirt marschiert, wo sie dem Wirt ein Geburtstagsständchen spielen will. Mit Brot, Hirschsalami und frischem Quellwasser ausgestattet, geht es nun an der Ramsauer Ache flussaufwärts – der Stille entgegen. Die wird allenfalls vom monotonen Rauschen des Wassers, dem kecken Zwitschern der Vögel oder dem einen oder anderen Bootspaddel unterbrochen, wenn es in die spiegelglatte Wasseroberfläche des Hintersees schlägt. Zwei Stunden von München entfernt scheint die Zeit zur perfekten Stunde stehen geblieben zu sein. Mit dem Watzmann-Gipfel, der über allem wacht, den Wiesentälern und dem fjordähnlichen Königssee im Blick führt jeder Schritt etwas weiter weg vom Alltag und schnurstracks dorthin, wo das Glück wartet. Dieses Gefühl muss für die Väter des Nationalparks Berchtesgaden eine Motivation gewesen sein, bereits im Jahr 1910 festzulegen, dass diese Gegend genau so bleiben soll, wie sie ist. Zunächst auf 83 Quadratkilometer begrenzt und schließlich 1921 auf 200 Quadratkilometer erweitert.
Im Nationalpark leben ausgewilderte Bartgeier
Der Nationalpark Berchtesgaden ist mit 260 Kilometern Wanderwegen und alpinen Steigen, verteilt auf die drei Täler Königssee, Wimbach- und Klausbachtal, der einzige deutsche Alpen-Nationalpark. Im Sommer werden hier 25 Almen bewirtschaftet. Auf denen ist die Artenvielfalt besonders groß, weil die Beweidung mit Rindern, Schafen und Ziegen verhindert, dass die Flächen zuwachsen. Oberhalb davon dominieren alpine Matten und Latschenfelder, auf denen sich Gams und Murmeltier an seltenen Gräsern, Kräutern und Flechten laben. Blumen wie Arnika wurden wieder heimisch, aber auch Silberwurz, Blutweiderich und die schwarze Akelei, die vor allem Hummeln anlockt. Bei manchen Tieren wird mit Auswilderungsprojekten nachgeholfen. „Kommen Sie mit“, sagt Ulrich Brendel und geht den schmalen Weg vom Hintersee Richtung Klausbachtal. Bisweilen bleibt er stehen und sucht den Himmel ab. Er marschiert durch Wald, über grüne Hügel und vorbei an Zirben, die weit über 150 Jahre alt sind. Ulrich Brendel ist Leiter des Informationszentrums Haus der Berge im Nationalpark. Sein Ziel ist ein kleiner Unterstand, wo im Winter das Rotwild gefüttert wird. „Von hier hat man die beste Rundumsicht auf das Steinadlerrevier im Klausbachtal und gute Einblicke in die Halsgrube, wo neuerdings Bartgeier ausgewildert werden“, sagt er.
Seit fast 30 Jahren leitet er das Steinadlerprojekt Berchtesgaden und ist noch immer gebannt, wenn er die großen Vögel beobachtet. Die Kombination aus Leichtigkeit, Stärke, Freiheit und Schönheit fasziniert ihn schon seit seiner Kindheit. „Was meine Liebe zu Großvögeln angeht, hat der Adler mit dem Bartgeier nun einen ziemlichen Konkurrenten bekommen“, sagt er. Nicht nur wegen des eindrucksvollen Erscheinungsbilds, sondern wegen dessen Ernährungsweise: Die Magensäure der Bartgeier ist so stark, dass sie sogar Knochen verdauen können. „Das Tier hat sich dadurch eine Nische ohne Konkurrenz geschaffen – einfach genial.“ Sein Blick schweift an den Bergflanken entlang. Dann plötzlich zeigt er mit dem Finger auf einen Felsen über dem Wald. „Dort fliegt ein Geier“, sagt er. Ist es Dagmar oder Recka, die im Juni 2022 zusammen ausgewildert wurden und sich nun mit Bavaria den Luftraum über dem Nationalpark teilen? 1913 ist der letzte Bartgeier in den Alpen getötet worden, weil man den Tieren nachsagte, dass sie Lämmer und kleine Kinder stehlen. „Der Vogel gehört nicht zu den aktiven Beutegreifern“, stellt Ulrich Brendel klar, „da besteht überhaupt keine Gefahr.“ Bis zu sieben Kilogramm wiegen die Tiere und haben eine Flügelspannweite von rund 2,90 Metern. Knochen bis zu einer Länge von 30 Zentimetern fressen Bartgeier am Stück.
Der Nationalpark ist auch ein Paradies für Schneehasen
Der Nationalpark ist für die Geier ein ideales Zuhause, weil in den verkarsteten Bergen die Thermik besonders gut ist und es kaum Infrastruktur wie etwa Seilbahnen gibt. „Außerdem verzichten die Jäger bei uns auf bleihaltige Munition“, erklärt Ulrich Brendel. „Andernorts sterben viele Bartgeier, weil sie mit Blei erlegtes Wild fressen.“ Mitunter kreisen Dagmar, Recka und Bavaria direkt über dem Aussichtpunkt, als wollten sie es den Wanderern leichter machen, sie zu entdecken. Sie werden auch über dem Wimbachschloss gesichtet, das kein Schloss ist, sondern eine Berggaststätte. Dort serviert Petra Palt rosa gebratenen Hirschrücken, Bolognese vom Watzmann-Wild oder ein Knödeltrio mit Almkräutern, Käse und Speck aus der Region. „Unsere Spezialitäten bereiten wir möglichst naturbelassen zu“, sagt die Wirtin, „damit erhalten wir den Eigengeschmack und die gesunden Vitalstoffe.“ Von der urigen Gaststube mit Terrasse sind es nur wenige Gehminuten bis zum Eingang zur Wilmbachklamm.
In dem wildromantischen Naturdenkmal lässt sich erahnen, wie lange die Natur braucht, um solche Landschaften zu formen: Mehrere Millionen von Jahre, in denen der Nationalpark die allermeiste Zeit so aussah, wie er heute ist – naturbelassen, geschützt und ein Paradies für Schneehasen, Schneehühner, Steinschmätzer und Mauerläufer. Diese bekommen Wanderer praktisch nie zu Gesicht. Wenn eines der Tiere stirbt, dann freuen sich die Bartgeier, die alle Reste vertilgen. „Es ist ein Schauspiel über das Leben und Sterben vor einer grandiosen Kulisse“, sagt Naturschützer Ulrich Brendel auf dem Rückweg zum Königssee, wo die Forellen munter nach den Mücken springen. In Ramsau, im Nebenzimmer des Oberwirts, wird derweil ein ganz anderes Schauspiel gezeigt, ein Film aus dem Jahr 1940: „Die Geierwally“.