Reise

Autor: Dorothee Fauth

Die Sage vom Ulmer Spatz

Wie ein kleines Vögelchen laut Überlieferung beim Bau des Ulmer Münsters half.
Der Spatz auf dem Ulmer Münster.

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©istockfoto.com / Andreas Bucher

Seit dem 15. Jahrhundert sitzt auf dem Dach des Münsters mit dem höchsten Kirchturm der Welt ein kleiner Vogel. Ursprünglich soll es eine Taube mit einem Ölzweig im Schnabel gewesen sein – Symbol dafür, dass Gott sich nach der Sintflut wieder mit den Menschen versöhnt hat. Allerdings war die Taube auf dem Ulmer Münster viel zu mickerig geraten, sodass sie spöttisch Spatz genannt wurde. Erst Jahrhunderte später entstand die Geschichte dazu, warum die Ulmer den früher verhassten Schädling, der die Körner auf den Feldern wegfraß, plötzlich bewunderten und ihm ein Denkmal setzten: die Sage vom Ulmer Spatz. Denn das vermeintlich unnütze Tier entpuppte sich als ein Genie. 

Das Stadttor war für die Baumstämme viel zu schmal

Dass sich die Ulmer dabei nicht gerade mit Ruhm bekleckerten, quasi ein Brett vor dem Kopf hatten – geschenkt. Schließlich ging es um nichts Geringeres als den Bau des Münsters, ein gotisches Meisterwerk von Weltformat. Dazu mussten lange Baumstämme in die freie Reichsstadt geschafft werden.

Dabei stellte sich heraus, dass das Tor in der Stadtmauer viel zu schmal war. So viel auch hin und her probiert wurde, die quer auf dem Wagen liegenden Hölzer passten nicht hindurch. Die ganze Stadt – Bürger, Räte und der sonst um keine Antwort verlegene Bürgermeister – war in Aufruhr und suchte verzweifelt nach einer Lösung. Das kollektive Nachdenken führte zu einem so klaren wie traurigen Ergebnis: Das Tor musste wohl oder übel abgerissen werden.

Vielleicht ist der Ulmer Spatz ein goldgelbes Spätzle

Plötzlich flog ein kleiner Spatz über die Menge, mit einem Strohhalm quer im Schnabel. Bevor er in sein Nest in einem schmalen Mauerspalt schlüpfte, drehte er den Halm längs. Da ging den Ulmern ein Licht auf, und sie applaudierten ihrem klugen Spätzle. Eine andere Lesart bringt den Ulmer Spatz mit den Ulmer Spätzle, den goldgelben Teigwaren, in Verbindung. Es heißt, man habe diese zur Blütezeit der Stadt nirgends in der Welt besser essen können als in Ulm.

Die Ulmer aber haben sich für die bessere Geschichte entschieden und identifizieren sich heute noch mit ihrem legendären Wahrzeichen. Sie bezeichnen sich selbst, Chormitglieder, Fußballer und ein Fahrgastschiff auf der Donau als Ulmer Spatzen. Ein kupfernes Exemplar sitzt weiterhin sichtbar auf dem Münsterdach, der Nachfolger der Taube aus Sandstein befindet sich inzwischen im Münster selbst in einer Vitrine unweit des Eingangs. Und nur in Ulm kann man Laugenspatzen kaufen – ein salziges Gebäck in Form des Vogels, der in vielen Städten kaum noch eine Zukunft hat. Dafür rast er schon seit Jahrmillionen durchs Weltall: Der 1987 entdeckte Asteroid 8345 wurde auf den Namen Ulmerspatz getauft. Was für eine Ehre für einen kleinen unscheinbaren, aber ziemlich schlauen Piepmatz!