Reise

Autor: Andreas Steidel

Insel Reichenau: Garten des Herrn

Die Reichenau ist die größte Insel im Bodensee. Ihre Gemüsekulturen sowie ihr uraltes klösterliches Erbe zeichnen sie aus.
Insel Reichenau: Garten des Herrn

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©istockfoto.com / davidhajnal

Gino döst friedlich. Der Klosterhund liegt dem Pater zu Füßen, der zum Mittagsgebet in die Saiten eines Psalters, die Urform der Zither, greift und geistliche Klänge spielt. Der Raum in der alten Kapelle ist erfüllt vom Duft von Räucherkerzen und gedämpften Licht. Auch Besucher sind zu den klöster­lichen Gebetsstunden in der Kirche St. Peter und Paul willkommen.
Vor 21 Jahren hat Pater Stephan Vorwerk (67) die Cella St. Benedikt auf der Reichenau gegründet. Es war die Wiederaufnahme einer untergegangenen Tradition. 1757 hatte der letzte Mönch die Bodenseeinsel verlassen, nach fast 1000 Jahren klösterlicher Hochkultur. Im Frühmittelalter war die Reichenau das geistliche Zentrum des Reichs. Auch der St. Galler Klosterplan, eine Art Blaupause für die Klöster des Mittelalters, wurde hier gezeichnet.


„Ich wollte nicht, dass das alles nur noch ein Museum ist“, sagt der Pater. Als er 2001 auf die Insel kam, war dieser gerade der Titel Unesco-­Welterbe für ihre Kirchen und Klosterbauten verliehen worden. Er begann, die Vergangenheit durch ein Stück Gegenwart wiederzubeleben. „Moderner, kleiner, offener“ will er sein. Auch ein wenig unkonventionell, wie die Anwesenheit des Hundes zeigt. Er hat ihn nach Egino, einem frühen Bischof der Reichenau, benannt.
Wie ein Schiff liegt die 4,3 Quadratkilometer große Heimat des Paters im westlichen Bodensee unweit der Stadt Konstanz. Ein grünes Eiland zwischen dem deutschen und dem Schweizer Ufer, das zu Baden-­Württemberg gehört. Von den drei Bodenseeinseln Mainau, Lindau und Reichenau ist Letztere die mit Abstand größte und seit 1838 über einen 1,8 Kilometer langen Damm mit dem Festland verbunden. Mit seinen riesigen Pappeln bildet er das südliche Ende der Deutschen Alleenstraße.


Jenseits des Damms wiegt sich das Schilfrohr des Wollmatinger Rieds im Wind. Das Naturschutzgebiet gibt Tausenden von Vögeln eine Heimat. Zugvögel rasten, Blässhühner, Spießenten und Singschwäne überwintern dort. Vom Aussichtspunkt der Burgruine Schopf­len hat man einen herrlichen Blick auf die Wasserlandschaften.

Ein Klostergarten wie vor mehr als 1000 Jahren


Die meisten Besucher fahren mit dem Auto durch die Inselmitte. Wer dagegen den Uferweg geht, entdeckt ganz andere Seiten der Reichenau. Still ist es dort zuweilen, manchmal hört man nur das leise Klatschen der Wellen und das Schaukeln eines Fischerbootes, das an die Uferplanken schlägt.
In Mittelzell steht das Münster St. Maria und Markus. Pater Stephan und seine Kollegen tun auch hier Dienst. Seit 2005 sind sie die katholischen Pfarrer der Insel. „Eine wichtige Aufgabe“, sagt der Pater – und eine Existenzberechtigung für seine Cella obendrein. Zwei Drittel der 3300 Reichenauer sind katholisch und fest verwurzelt in den Traditionen, zu denen auch drei eigene
Inselfeiertage gehören: das Markus-­Fest im April, das Heilig-Blut-Fest eine Woche nach Pfingsten und Mariä Himmelfahrt im August.
Auf der Rückseite des romanischen Münsters befindet sich ein Klostergarten. Dort wachsen Pflanzen, die der Reichenau-­Abt Walahfrid Strabo 840 in seinem Gartenbüchlein „Hortulus“ beschrieb: Salbei, Minze, Sellerie, Weinraute und Schlafmohn sind darunter – die älteste Heil- und Küchenkräuterkunde, die bis heute überliefert ist. Die Mönche sollen es auch gewesen sein, die als Erste den fruchtbaren Boden der Reichenau bebauten. Das Seeklima ist mild, es wärmt im Winter und kühlt im Sommer – ideale Voraussetzungen für Weinbau und Gemüsekulturen. Heute ist vor allem das Gemüse der Star. Ein Drittel der Inselfläche besteht aus Salatbeeten und Zucchini-­Kulturen, Gurken-Gewächshäusern und Auberginen-Feldern. Stefanie Wehrle ist eine von 50 Vollerwerbslandwirten auf der Reichenau. 2016 übernahm die 36-Jährige den Betrieb von ihrem Vater. Sie verdient ihr Geld mit dem Anbau von Strauchtomaten und Schlangengurken, im Herbst und Winter kommen Brokkoli und Feldsalat dazu.


Der Gemüsegarten Reichenau hat einen guten Ruf

„Es ist immer viel zu tun“, sagt Stefanie Wehrle, „wir stehen auch samstags auf dem Acker.“ Sie musste nur kurz überlegen, ob sie den Familienbetrieb übernehmen soll. Inzwischen sitzt die studierte Gartenbauingenieurin auch im Vorstand der Genossenschaft Reichenau-Gemüse. „Als erste Frau“, wie sie nicht ohne Stolz erwähnt.
Bis heute liegt der Gemüsebau auf der Reichenau in der Hand von Familienbetrieben. „Die Hofnachfolge wird aber immer schwieriger“, sagt Stefanie Wehrle. Hohe Heizkosten für Gewächs­häuser und der Arbeitskräftemangel machen es nicht leichter. Dem gegenüber steht der ausgezeichnete Ruf
des Reichenauer Gemüses: Die nährstoffreichen, mineralhaltigen Böden und das milde Klima lassen die meisten Feldfrüchte schon sehr früh reifen. „Wir sind eigentlich immer die Ersten“, stellt die Gemüsebäuerin fest, die sich wünscht, dass die Supermärkte die Herkunftsbezeichnung Reichenau noch viel deutlicher hervorheben.
Zu Stefanie Wehrles Hobbys gehört der Weinbau. Einen halben Hektar bewirtschaftet sie im südlichsten Weinbaugebiet Deutschlands. Ihre Reben liegen an der einzig echten Erhebung auf der Reichenau: der Hochwart.
Ganze 40 Meter erhebt sich der Hügel über der Insel. Das genügte einst, um dem Gebietswächter den Blick auf diebische Umtriebe in den Reben zu ermöglichen. Finger weg von den reifen Trauben! Heute ist die Hochwart ein beliebter Aussichtspunkt, vom dem aus man die Insel und den westlichen Bodensee überblicken kann. Von dort aus sieht man auch auf das gegenüberliegende Schweizer Ufer mit dem Schloss Arenenberg, wo im 19. Jahrhundert der Franzosenkaiser Napoleon III. aufwuchs. Er war ein sportlicher Typ und schwamm mehrfach vom Ermatinger Ufer zur Insel hinüber. Angeblich soll er im Übermut auch Gewehrsalven in Richtung Reichenau abgefeuert haben.
All diese Eindrücke kann man auf der Hoch­wart bei Kaffee und Kuchen sacken lassen. Dort werden in einem alten geschindelten Teehäuschen selbst gebackene Köstlichkeiten serviert und Keramiken hergestellt. Ein kreativer Rückzugsort und einer jener Plätze, die man nur entdeckt, wenn man von der Hauptroute abweicht.
Diese führt vom Reichenau-Damm nach Oberzell, Mittelzell und Niederzell. Die klösterliche Bezeichnung „zell“ steht dabei für einen Vorrats- oder Wirtschaftshof. Berühmt ist vor allem die Kirche St. Georg in Oberzell, deren ottonische Wandmalereien zu den großen kulturellen Sehenswürdigkeiten der Insel gehören. Da Feuchtigkeit die Farben schädigt, gibt es in der Saison nur ausgewählte Führungstermine. Zu den Gottesdienstzeiten der Mönche ist die Kirche jedoch immer offen.
Pater Stephan liebt St. Georg, auch weil die Salatbeete bis an die Kirchenmauer heranreichen. „Wie sehr die ersten Mönche mit der Erde verbunden waren, das kann man hier noch hautnah erleben“, sagt er.
Es soll ein Heiliger namens Pirmin gewesen sein, der die Insel einst urbar machte. Bald erkannte man, wie fruchtbar der Boden war, und gab ihr den Namen „reiche Au“. Ein Lebensraum für viele. Auch Gino, der Klosterhund, fühlt sich hier pudelwohl. Nach dem Gebet geht’s Gassi, ein paar Kilometer am schönen Seeufer entlang. Auf der Reichenau liegt das zum Glück nie weiter als ein paar 100 Meter entfernt.



Tipps für die Region


Uferweg
Ein schöner Fußweg umrundet die Insel. Er ist etwa zwölf Kilometer lang und führt zu vielen Punkten, die man mit dem Auto nicht erreicht.

Hochwart
Der höchste Punkt der Reichenau ist umgeben von malerischen Weinbergen. Oben gibt es ein Teehäuschen, in dem Kaffee, Tee und Backwaren serviert werden und das eine Keramikwerkstatt mit Laden beherbergt. Wunderbarer Ausblick über den See, die Insel und aufs Schweizer Ufer.
www.werkgaleriehochwart.de

Kirchen
Zu den herausragenden Monumenten der Reichenau gehören ihre drei Kirchen: St. Peter und Paul (Niederzell), das Münster Maria und Markus (Mittelzell) und St. Georg (Oberzell). Außer St. Georg mit ihren ottonischen Wandmalereien, die man nur im Rahmen von Führungen besichtigen kann, sind die Kirchen immer offen.
www.kath-reichenau.de

Museen
Verteilt über die Insel gibt es drei Museen, die die Geschichte der Reichenau erzählen: neben der Kirche in Niederzell, gegenüber von St. Georg in Oberzell und – das größte – in der Ortsmitte von Mittelzell. Im Winter sind die Museen nur am Wochenende geöffnet.
www.museumreichenau.de

Schloss Arenenberg
Auf der Schweizer Bodenseeseite, hoch über Ermatingen und nur knapp zwei Kilometer vom Ufer der Reichenau entfernt, wuchs der spätere Franzosenkaiser Napoleon III. auf. Das Schlösschen auf dem Arenenberg kann besichtigt werden, auch der Garten ist sehenswert.
www.napoleonmuseum.tg.ch

Naturschutzzentrum
Die Reichenau ist umgeben von großen Flachwasserzonen und Schilfgürteln, links und rechts des Damms liegt das Naturschutzgebiet Wollmatinger Ried. Im Nabu-Bodenseezentrum auf dem Festland kann man sich über die Natur informieren und ganzjährig an Führungen teilnehmen.
www.nabu-bodenseezentrum.de

Gemüse
Wer auf der Reichenau frisches Gemüse einkaufen will, hat dazu im Pavillon der Genossenschaft Reichenau-Gemüse Gelegenheit (Marktstraße 1). Im Winter gibt es vor allem Rosenkohl, rote Bete, Feldsalat und Grünkohl sowie eine breite Palette anderer Hofladenprodukte. Auch Bodenseefisch wird dort angeboten.
www.gemuesepavillon.de

Vinothek
Die Weinbaufläche der Reichenau ist klein, dennoch betreibt die Winzergenossenschaft eine eigene Vinothek in einem Nebengebäude des Münsters in Mittelzell. Die wichtigsten Rebsorten stellen Müller-Thurgau und Spätburgunder dar. Die Flaschen sind zum Teil mit kunstvoll
gestalteten Etiketten versehen.
www.winzerverein-reichenau.de

Stundengebete
Dreimal täglich außer montags laden die Mönche und Schwestern der Cella St. Benedikt zu Stundengebeten ein: um 7.30, 12.15 und 19.30 Uhr. Sie finden in der Egino-­Ka­pelle der Kirche St. Peter und Paul in Niederzell statt.
www.benediktiner-reichenau.de


Kontakt: Tourist-Information
Reichenau, Pirminstraße 145, 78479 Reichenau; Tel. 0 75 34/9 20 70 www.reichenau-tourismus.de