St. Moritz: Ein Dorf von Welt
Großartige Berge, viel Eleganz und noch mehr Show: St. Moritz ist eine ganze besondere Winterdestination.

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Plötzlich ploppt sie vor der Windschutzscheibe auf, die kantige Silhouette der Alpen. Da muss man drüber, sich den Julierpass hinaufwinden. Mit jeder Serpentine wird die Landschaft karger, rauer, steiniger. Von der Passhöhe sind es dann nur noch wenige Kurven hinab nach St. Moritz. Andere machen es sich einfacher, reisen nicht mit dem Auto, sondern mit dem Privatjet an. An Winterwochenenden landet schon mal alle 15 Minuten ein Flieger auf dem Engadin Airport. Aber jetzt erst einmal durchatmen, die prickelnde Champagnerluft tief in die Lungen ziehen. Die gibt es selbst in St. Moritz umsonst.
Das Dorf in der Graubündener Region Oberengadin (Schweiz) liegt auf 1800 Metern und ist eine ganz besondere Winterdestination. Alles hier ist Eleganz und Show, eingebettet in eine atemberaubende Bergwelt. Im Winter trifft sich dort ein illustres Publikum. Nicht alle zieht es hinauf ins über den Ort gelegene sonnige Skigebiet Corviglia, dessen Pisten bis auf 3100 Meter reichen. Im Januar und Februar jagt unten im Ort ein Spektakel das nächste. Die Basis ist der zugefrorene St. Moritzersee.
Mit einem ersten Bummel durch St. Moritz stimmt man sich bestens auf das kleine Weltdorf ein. Vom Parkhaus Serletta am See rollt die mit 150 Metern längste Rolltreppe der Schweiz hinauf zur Haupteinkaufsstraße – und befördert ihre Passagiere dabei an der Design Gallery vorbei. Bis Sommer 2024 zeigt sie Fotos aus dem St. Moritz der 1920er-Jahre, die mit künstlicher Intelligenz koloriert wurden. Das Ergebnis ist mal verblüffend gut, mal recht schräg.
Stimmungsvoller Lichterglanz aus Tausenden Lämpchen ergießt sich über die Via Serlas und die Fußgängerzone, wo sich eine Luxus-Boutique an die andere reiht. Die kaufkräftige Kundschaft stammt überwiegend aus der Schweiz, Deutschland, Großbritannien und dem asiatischen Raum. Aus Russland kommen heute fast nur noch die Zobelfelle der Pelzmäntel. Wer meint, so etwas brauche er auch: Mit 35 000 bis 58 000 Franken ist man dabei. Ansonsten: einfach gucken und staunen.
Spannendes Spektakel: die Pferderennen auf dem See
Wenn am nächsten Morgen einer der zahlreichen strahlenden Sonnentage anbricht, lockt der St. Moritzersee mit all seinen Reizen. Ende Januar und an drei Sonntagen im Februar finden auf der weißen Arena internationale Poloturniere sowie die Pferderennen des White Turf statt. Mitreißender Höhepunkt ist das Skikjöring: Dabei lassen sich Fahrer auf Skiern von einem Pferd im Galopp über die Rennbahn ziehen. Unbezahlbar? Aber nein! Stehplätze gibt es für 25 Franken (umgerechnet 26 Euro) – Wettgutschein inklusive. Statt mit Pelz ist man auch mit einer riesigen Sonnenbrille gut gekleidet, da reicht das Budget noch für ein Glas Champagner. Sofort ist man mittendrin in der spannungsgeladenen Atmosphäre, jubelt zu, fiebert mit.
Wer dem ganzen Trubel ausweichen möchte – nichts leichter als das. St. Moritz verfügt über ein Netz von rund 230 Kilometer Loipen, und eine führt quer über den See. Dazu gibt es zahlreiche Winterwanderwege. Hier steht allein die Natur im Mittelpunkt: Tannen, beladen mit Schnee, strahlend weiße Berge, präsent und doch nicht einengend. Dazu diese spezielle Stimmung, wenn Millionen winziger funkelnder Eiskristalle durch die kalte Luft wirbeln wie Glimmer in einer Schneekugel.
Mitten durch diese Winterwelt fährt ein Unesco-Welterbe: Der Bernina Express stoppt auch in St. Moritz. Und im fünf Kilometer entfernten Punt Muragl Staz (Muragl spricht man „Murai“ aus). Gegenüber des Halts startet die rote Standseilbahn auf den Aussichtsberg Muottas Muragl. Dort oben, auf 2456 Metern, liegt einem die ganze Schönheit des Oberengadins zu Füßen. Der Blick reicht über den St. Moritzersee und den Silvaplanersee bis zum Silsersee. Wie Spiegel liegen sie in dieser sonnendurchfluteten Bergwelt. Gesäumt von Lärchenwäldern, die im Herbst als letztes Glanzstück der Natur ein goldenes Feuerwerk entfachen.
Mit Farben kennt sich Davide Grosina aus. Mit Winden auch. „Die Farben hängen von den Winden ab“, erklärt der Gleitschirmpilot von Paragliding Engadin, der das ganze Jahr über Tandemflüge anbietet. „Bei trockenem Nordwind sind sie sehr klar, bei Südwind gedämpfter.“ Und dann erzählt er von der coolsten Truppe auf Muottas Muragl. Der Berg ist nämlich ein Steinbockparadies. „Im Frühjahr kommen sie bis ins Dorf, 50 Stück.“ So unwiderstehlich finden sie das frische Gras im Mai.
Das leise Knirschen des Schnees ist das einzige Geräusch, wenn man im Winter auf Muottas Muragl auf dem Philosophenweg oder dem Panorama-Rundweg unterwegs ist. Anschließend lassen sich dort wunderbare Sonnenuntergänge erleben, denn die Bahn fährt bis 23 Uhr, und das Panoramarestaurant serviert auf der Terrasse die Drinks dazu.
Rasante Abfahrt: die Schlittlbahn Muottas Muragl
Bei Tageslicht kommt man auch auf Kufen ins Tal: Die Schlittlbahn verspricht jede Menge Spaß und Nervenkitzel und bei jedem scharfen Bremsmanöver eine Schneedusche. Mit 20 kniffligen Kurven und 700 Höhenmetern ist der 4,2 Kilometer lange Schneeschnellweg nichts für Anfänger.
Zurück in St. Moritz: Es hat zu schneien begonnen. Macht nichts, für unwirtliche Tage gibt es das Bad Ovaverva mit Spa. Dort lassen sich Ruhe und Wärme tanken, während vor den Panoramafenstern die Flocken tanzen und Langläufer vorbeigleiten. „Im März führt hier der Engadiner Skimarathon entlang“, erklärt die Dame an der Kasse. „Hopp, hopp“, feuert das Publikum die Sportler an der Loipe an. Und die SpaBesucher sitzen auf Logenplätzen.
Dass St. Moritz zu dem geworden ist, was es ist, hat es seiner großartigen Natur und seinem Pioniergeist zu verdanken. Hier wurde 1864 mit einer Wette der Wintertourismus erfunden. Der Hotelier Johannes Badrutt versprach seinen englischen Sommergästen im Winter eine Bilderbuchlandschaft, Sonnenschein und T-Shirt-Temperaturen. Sollte er unrecht haben, erstatte er die Reisekosten. Die Gäste blieben bis Ostern.
Das Badrutt’s Palace von 1892 ist bis heute das imposanteste Grandhotel im Ort. Wie eine trutzige Burg erhebt es sich an der Via Serlas über dem See. Man muss ja nicht unbedingt in einem seiner Fünf-Sterne-Suiten logieren. Aber ein Nachmittagstee in der legendären Hotellobby ist ein bezahlbares Erlebnis.
Wem das auf Dauer zu kosmopolitisch und zu viel Jet Set ist, der findet in der Confiserie Hanselmann in der Fußgängerzone ein Stück traditionelles Engadin in einem Haus mit wunderbarer Kratzputz-Fassade – ein Kleinod im ziemlich verbauten St. Moritz. „Uns gibt es 2024 seit 130 Jahren“, sagt eine der Verkäuferinnen. Im Café lässt man sich Engadiner Nusstorte schmecken mit Blick auf den See. Und packt am besten noch eine ein. Als köstliches Andenken. Oder als Nervennahrung für das Geschlängel zurück über den Julierpass.