Reise

Autor: Andreas Steidl

Unterwegs auf dem Kocher-Jagst-Trail

Der 200 Kilometer lange Kocher-Jagst-Trail erschließt Hügel, Flusstäler und Dörfer des Hohenloher Lands in Baden-Württemberg.
Idyllischer Flusslauf der Jagst nahe Hohenlohe in Baden-Württemberg

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©iStockphoto.com / MarcStephan

Flieg, flieg, flieg! Mit der Leichtigkeit eines Vogels hebt der Hängegleiter von der Kante des Einkorn ab. Er schwebt über Felder und kleine Dörfer, die Namen tragen wie Michelbach an der Bilz, Rauhenbretzingen und Gschlachtenbretzingen. Sie liegen inmitten saftiger Wiesen und gelb blühender Rapsfelder, sanfter Hügel und grüner Laubwälder. Der Einkorn ist ein 510 Meter hoher Bergsporn über den Weiten des fränkisch angehauchten Hohenloher Lands im Norden Württembergs. Seine Westseite ist unbewaldet, und sein Höhenplateau gleicht einer Rampe. Das ideale Terrain für Drachenflieger, die hier seit 1979 im Verein des Hängegleiterclubs Einkorn organisiert sind.
Der Berg der Drachenflieger ist einer der Höhepunkte auf dem 200 Kilometer langen Kocher-Jagst-Trail. Der Fern- und Rundwanderweg erschließt die Hügel und Flusstäler von Hohenlohe: vom Kochertal zum Jagsttal und dann über das Bühlertal zurück zum Kocher. Seinen Namen hat dieser Landstrich von einem alten Adelsgeschlecht: den Grafen und Fürsten zu Hohenlohe, die einstmals eine Burg bewohnten, die Hohlach (hochgelegenes Gehölz) hieß. Schwäbisch spricht man hier eigentlich nicht mehr, die Gegend kam erst vor 200 Jahren zum damaligen Königreich Württemberg hinzu – unfreiwillig, wie manche heute noch augenzwinkernd bemerken. Kocher und Jagst sind die beiden Hauptflüsse der Region und zwei Nebengewässer des Neckars. Die kleine Bühler fließt irgendwo dazwischen und mündet schließlich in den Kocher. Weiler säumen ihre Ufer, mit muhenden Kühen und schnatternden Gänsen. Damit man nicht die Orientierung verliert, wurde der Hauptweg in drei Abschnitte unterteilt: den Kochersteig, den Jagst­steig und den Bühlersteig – benannt nach den Flüssen.

Erfrischend: kleines Kneipp- Becken mitten im Wald

Der Einkorn liegt am Bühlersteig, drei Kilometer südöstlich von Schwäbisch Hall. Im Frühjahr und Sommer ist hier richtig was los. Es gibt einen rustikal gemütlichen Stadl, in dem man Feste feiern kann. Beschattet von Bäumen steht nebenan die Ruine einer Wallfahrtskirche, aus deren Mitte ein Aussichtsturm herausragt. „Es lohnt sich hochzugehen“, sagt Ayhan Celik, der mit seiner Frau regelmäßig hierher kommt, um den Weitblick in die Landschaft zu genießen und das bunte Treiben der Drachenflieger zu beobachten. Es ist ein idealer Rastpunkt für Wanderer, die schon ein paar Kilometer Strecke hinter sich haben. Kurz zuvor gab es bereits eine Gelegenheit, die Füße abzukühlen. Mitten im Wald, ganz in der Nähe von Michelbach an der Bilz, hat der örtliche Albverein ein Kneippbecken installiert. Begleitet vom Frühlingsgezwitscher der Vögel kann man durchs kalte Wasser waten, um dann mit neuer Kraft den Weg fortzusetzen.

120 Höhenmeter sind das Maximum

Der Steig ist nicht so steil, wie er klingt. Alpinen Herausforderungen muss man sich hier nicht stellen, die 120 Höhenmeter hinauf zum Einkorn sind schon das Maximum. Danach geht es erstmal wieder steil bergab in Richtung Schwäbisch Hall. Man passiert den Bahnhof Hessental, wo der Bühlersteig in den Kochersteig übergeht. Eine Wegetafel weist darauf hin. Die Beschilderung entlang des Kocher-Jagst-Trails ist so narrensicher, dass man sich eigentlich nicht verlaufen kann.
Wasser schießt den Hang hinunter. Der Kocher ist hier schon ein richtiger Fluss, der sich seinen Weg durch die Landschaft und Dörfer bahnt. Seine Nähe war sicher ein Grund, warum die Benediktiner in Steinbach vor den Toren Schwäbisch Halls ein Kloster bauten: die Comburg, auch Großcomburg genannt. Ihre majestätische Silhouette schiebt sich schon von Weitem ins Blickfeld. Das unzerstörte Ensemble aus Kirche, Konvent und einer Ringmauer kann man begehen. Adelige Chorherren lebten hier, später hielt ein Ehreninvalidenkorps der Württemberger Einzug – Zeichen der neuen Machtverhältnisse.
Nun ist Schwäbisch Hall fast schon erreicht. Zwischen gackernden Hühnern und Fachwerkhäusern nähert man sich der ehemaligen Reichs- und Salzsieder­stadt. Ihr pittoreskes Erscheinungsbild hat es 1944 sogar in Heinz Rühmanns legendären Film „Die Feuerzangenbowle“ geschafft. Kurz vor Kriegsende gab es nicht mehr allzu viele unzerstörte Idyllen, die man in Bildern zeigen konnte.

Dramatisch: Freilichttheater auf der Kirchentreppe

Schwäbisch Hall blieb von den Bomben weitgehend verschont und hat bis heute eine geschlossene Altstadt mit vielen kleinen Gassen und stattlichen Bürgerhäusern. Man nähert sich ihr auf einem malerischen Uferweg entlang des Kochers. Gedeckte Holzbrücken führen übers Wasser, am gegenüber-
liegenden Steilufer des Flusses ragen bunte Torhäuser auf. Der Kocher ist nun ein überaus kraftvolles Gewässer, das auch die Turbinen der örtlichen Stadtwerke speist. Der Fernwanderweg Richtung Innenstadt führt mitten durch das grüne Parkband direkt am Flussufer. „Sie können draußen Platz nehmen“, sagt die Kellnerin im Anlagencafé, das so malerisch zwischen Kocher und Altstadtmauer liegt, dass man nur schwer an ihm vorbeikommt.
Im Frühling und Sommer ist Schwäbisch Hall ein Ort des fröhlichen Feierns und Treibens, der Kunst und der Kultur. Auf der großen, steilen Frei­treppe der Michaelskirche wird seit fast 100 Jahren Freilichttheater gespielt. Eine Kocherinsel wiederum dient als Standort eines kuriosen Bühnenbaus nach englischem Vorbild: Das kreisrunde Globe Theater mit seinen drei Stockwerken und flexibel verschließbarem Dach gehört zu den ungewöhnlichsten Spielstätten in Deutschland.

Großartig: die Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall

Und dann gibt es da noch die Kunsthalle Würth mit ihrem abwechslungsreichen Programm moderner und zeitgenössischer Kunst. Das Hällisch-­Fränkische Museum bereitet die Geschichte der Stadt auf. Allein die Bauten lohnen einen Besuch. Hällisch-Fränkisch sagt schon, dass Schwäbisch Hall eigentlich nie wirklich zu Schwaben gehörte. Es ist einem Zufall im Mittelalter geschuldet, dass man in den Einflussbereich der südlichen Nachbarn geriet und deren Namen annahm. Grund dafür war ein heftiger Streit mit dem Landgericht in Würzburg, der mit dem Seitenwechsel endete: vom Fränkischen zum Schwäbischen Reichskreis, wie die territorialen Untereinheiten damals hießen. Rein landsmannschaftlich müsste die Stadt am Kocher Fränkisch Hall heißen.
Von dort führt der Wanderweg weiter nach Norden zum nächsten Etappenziel Braunsbach, immer am Kocher entlang. Dort erwartet die Ausflügler im Ortsteil Geislingen ein Highlight der ganz anderen Art: In mehr als 180 Meter Höhe überquert die A 6 das Kochertal, auf der höchsten Autobahnbrücke Deutschlands. Wie Spielzeugautos sehen die Lastwagen aus, die darüber hinwegdonnern, und wie Stecknadeln wohl die Wanderer, die staunend auf dem Kocher-Jagst-Trail darunter hindurchgehen.