Spannung

Autor: Bonnie Munday

Allein im Gleitschirm 7300 Meter über der Erde

In einem heftigen Gewitter wird ein Gleitschirmflieger in die Höhe gerissen und verliert das Bewusstsein. Dann stürzt er mit 60 km/h zu Boden. 

Ein einsamer Gleitschirmflieger hoch über den Wolken

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©iStockphoto.com / Arda Demir

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Ben Lewis stieg in die Beinöffnungen seines Gurtzeugs, zog es hoch und befestigte es mit zwei Clips an der Hüfte und einem an der Brust. An jeder Seite des Gurtzeugs waren mehrere Leinen befestigt, die ihn mit seinem großen Gleitschirm verbanden. Der 45-Jährige warf einen Blick zurück auf das Blätterdach, das sich hinter ihm auf dem steilen Hang in Bir nahe der Grenze zu Pakistan in Nordindien ausbreitete – eine letzte Kontrolle, kurz vor zehn Uhr am 17. Oktober 2024. Dann wendete er sich den fernen Gipfeln des Unteren Himalaya und dem Kangra-Tal zu, das sich unter ihm befand. Es war so weit. Die Bremsleinen des Gleitschirms umklammernd lief Ben in Richtung Tal los. Die Luft füllte die Zellen des zehn Meter breiten gelb-rosa Schirms. Als er in den wolkenverhangenen Himmel aufstieg, hob er seine Beine an und steckte sie in die Neoprenhülle. Das war der Moment, den Ben liebte: Er schwebte wie ein Vogel.

Gleitschirmfliegen wird als die reinste Form des Fliegens bezeichnet. Schirm und Gurtzeug können in eine Tasche gepackt und leicht transportiert werden. Diese Flexibilität hatte Ben Lewis zu dem Sport gebracht. Der Hausarzt, der mit seiner Frau Lindsey und zwei kleinen Kindern in Watson Lake im kanadischen Yukon-Territorium lebte, wurde süchtig, nachdem er 2009 auf einer Reise in Neuseeland einen eintägigen Kurs absolviert hatte. Zurück in der Heimat kaufte er zusammen mit einem Freund einen Gleitschirm und begann, von den Bergen um Whitehorse aus zu starten. Später besorgte er sich eine eigene Aus­rüstung und ging in Mexiko, Spanien und Kolumbien in die Luft.

Wer fliegt die meisten Kilometer?

Jetzt befand er sich im Gleitschirm-Mekka Bir nahe der Grenze zu Pakistan im Westen und Tibet im Osten. Drei Wochen zuvor waren Ben und seine Gleitschirmkollegen, die Brüder Dave (40) und Trace McDonald (35) von Yukon nach Delhi geflogen und mit dem Nachtbus in diese kleine Stadt gefahren. In weniger als einer Woche würden sie nach Hause zurückkehren. Das Gebiet mit seinen steilen Hängen und tiefen Tälern ist bekannt für seine günstige Thermik – warme Luft, die vom Boden aufsteigt. Die drei Kanadier waren fast jeden Tag unterwegs und hatten eine Routine entwickelt: früh aufstehen und ihre Familien anrufen; Frühstück; mit einem Taxi 45 Minuten zum Startplatz oberhalb von Bir fahren; die Ausrüstung flugfertig machen. 
Gegen zehn Uhr beobachteten sie Gänsegeier, um den besten Startzeitpunkt zu erkennen: wenn die riesigen Vögel in der Thermik aufstiegen. An manchen Tagen blieben die Freunde dicht beieinander. Manchmal versuchten sie, ihre persönlichen Bestweiten zu übertreffen. Dave, ein Rettungssanitäter, steigerte seine Bestleistung auf 101 Kilometer. Trace, der als Aufseher in einer Goldmine arbeitete, schaffte ungefähr die gleiche Distanz. 
Ben Lewis, ein ehemaliger Turner und Leistungssportler, hatte eine Woche zuvor seine Bestleistung von 170 Kilometern erreicht. Daraufhin beschloss er, am 17. Oktober 200 Kilometer anzupeilen. Er schätzte, dass er dafür mindestens sechs Stunden brauchen würde, also startete er weit vor seinen Freunden, die an diesem Tag kürzere Flüge planten.

Ein Gewitter - schlechte Aussichten für Gleitschirmflieger

Entlang der Dhauladhar-Kette flog Ben nach Nordwesten. Der Tag begann leicht bewölkt, für später waren Gewitter vorhergesagt. Ben war jedoch nicht beunruhigt – die ganze Woche über waren keine aufgetreten. Die Aussicht war atemberaubend: die schneebedeckten Gipfel der Dhauladhars, das grüne Kangra-Tal. In der Ferne waren die niedrigen Gebäude von Bir zu sehen, darunter auch das Gästehaus, in dem er ein paar Stunden zuvor ein Videotelefonat mit Lindsey geführt hatte. 
Bens Plan war, 80 Kilometer nach Nordwesten zu fliegen. Dort lag die Stadt Dharamshala, in der viele tibetische Flüchtlinge lebten, darunter auch der Dalai Lama. Dann wollte er 15 Kilometer weiterfliegen, umdrehen, Bir um einige Kilometer überfliegen, wieder umkehren und landen. Ein Variometer zeigte Geschwindigkeit und Höhe an. Außerdem hatte Ben sein iPhone mit einer App, die GPS-Koordinaten aufzeichnete, einen Kompass, ein Thermometer und einen Sack für den Gleitschirm dabei.
Gegen 14 Uhr machte er sich auf den Rückweg und bemerkte, dass sich der Himmel verändert hatte: Dunst hing in der Luft. Ben überlegte, ob er ins Tal abbiegen sollte, um zu landen, aber auch in dieser Richtung war die Sicht nicht besonders gut. Außerdem bedeutete eine Landung so weit von Bir entfernt eine stundenlange Taxifahrt zurück. Er sah keine Anzeichen eines aufziehenden Sturms, also beschloss er, auf dem bekannten Weg zu bleiben.

Ben ist verschwunden

Dave McDonald saß mit zwei Guides in einem Café und beobachtete die rund 150 bunten Gleitschirme, die über dem Tal schwebten. Sein Job als Rettungs­sanitäter war oft stressig, und das ganze Jahr über freute er sich auf die Reisen mit Trace und Ben. An diesem Tag hatte er nur einen kurzen 90-minütigen Flug unternommen. Trace flog immer noch. Gegen 13.30 Uhr bemerkte das Trio im Café, dass die Wolken in Richtung Dharam­shala dichter wurden. Eine Wolke ragte besonders hoch. „Das könnte eine Cumu­lo­nimbus (Gewitterwolke) werden“, bemerkte einer der Guides. 
Dave war nicht beunruhigt, denn in den letzten Wochen hatten sich jeden Tag nachmittags Wolken gebildet, die sich aber nie zu einem Gewitter entwickelten. Dann hörten sie ein Grollen. „War das ein Donner?“, fragten sie sich. Ein weiteres Grollen – ja, das war eindeutig Donner. Ein Mann am Nachbartisch scherzte: „Heute wird wohl jemand ins Weltall gesaugt.“ 
In der nächsten halben Stunde landeten die Gleitschirmflieger einer nach dem anderen. Dave hielt Ausschau nach Bens und Traces Schirmen, aber es landeten so viele, dass er nicht erkennen konnte, ob sie dabei waren.
Nach einer Weile erhielt Dave eine Nachricht von Trace: „Ich habe es sicher nach unten geschafft.“ 
„Hey Trace, funk Ben an und sag ihm, er soll sofort landen.“
„Ich habe es versucht.“ 
„Ben, schick uns eine Nachricht und lass uns wissen, dass du sicher gelandet bist“, schrieb Dave.
Da Ben nicht antwortete, dachten sich die Brüder, dass dieser wohl keinen Handyempfang hatte. Während Dave auf seinen Bruder wartete, postete er ein Bild von Ben und dessen rosa-gelbem Schirm an die WhatsApp-Gruppe, der die meisten Bir-Flieger angehörten. „Hey, hat jemand unseren Freund Ben gesehen? Wir haben nichts von ihm gehört.“ 
Keine Reaktion.

Ben wird in die Gewitterwolke gesaugt

Als Ben gegen 14.30 Uhr in einer Höhe von etwa 2400 Metern in die Wolke flog, konnte er nicht erkennen, dass sich über ihm ein Cumulonimbus bildete. Während der ersten Minuten zeigte das Variometer an, dass er allmählich aufstieg. Regen setzte ein. Ben beschloss, aus der Wolke heraus und nach Süden in Richtung Tal zu fliegen. Aber es war zu spät. Der Auftrieb zog ihn immer schneller in die Gewitterwolke. Es begann zu schneien, die Kompassnadel begann sich wild im Kreis zu drehen, und die Pieptöne seines Variometers verdichteten sich zu einem ständigen Alarmsignal. Heftige Turbulenzen beutelten Ben, er verlor die Kontrolle über seinen Gleitschirm und  schoss immer höher. Hagelkörner hämmerten gegen seinen Helm und seine Brille. Blitze zuckten um ihn herum, und der Donner war ohrenbetäubend. Die Leinen, die sein Gurtzeug mit dem Schirm verbanden, verhedderten sich. 
Verzweifelt suchte Ben nach einem Ausweg. Er könnte die Leinen durchtrennen und seinen Notschirm öffnen, aber seine Hände waren zu kalt, um das Messer zu halten. Seine Sturmhaube, seine Handschuhe, sein Merinowollpullover und seine Jacke waren der Temperatur von minus 30 Grad nicht gewachsen.
„Wie hoch bin ich jetzt?“, fragte Ben sich. Als er seine vereiste Brille abnahm, warf er einen Blick auf die Höhen­anzeige: 6700 Meter und steigend. Seine Kräfte ließen nach. Als er weiter aufstieg und die Luft immer dünner wurde, verlor Ben das Bewusstsein. 

Es war fast 16 Uhr, als Trace sich mit Dave in der Wohnung traf. In der nächsten Stunde schickten sie Ben mehrere WhatsApp-Nachrichten. In der App konnten sie sehen, dass diese nicht ankamen. Die Brüder wussten, was ein Jahr zuvor einem polnischen Flieger passiert war. In der Nähe von Dharamshala wurde er von schlechtem Wetter überrascht; Sucher fanden seine Leiche eine Woche später hoch oben an einem Berghang.  

Als Ben zu sich kommt, ist verletzt, fast blind und taub

Kurz unterhalb der Baumgrenze an einem steilen Hang 25 Kilometer östlich von Dharamshala kam Ben Lewis zu sich. Vorgebeugt, das Kinn auf der Brust, baumelte er in seinem Gurtzeug einen Meter über dem Boden, sein Schirm hatte sich in den Ästen der Bäume sechs Meter über ihm verheddert. Hagel prasselte auf ihn ein. 
„Was zum Teufel ist passiert?“, dachte er, als er seine Augen öffnete. „Wo bin ich? Und warum kann ich nichts sehen?“ Die extreme Kälte – das Variometer zeigte später, dass er mehr als 7300 Meter hoch gewesen war – hatte seine Augen geschädigt. Mit dem linken konnte er überhaupt nichts sehen, und das rechte hatte einen zentralen blinden Fleck. Sein Sehvermögen reichte aus, um die Uhrzeit auf seinem iPhone zu sehen: 15.30 Uhr. Der Hagel ging in Regen über. Ben war praktisch blind und taub, hatte mindestens ein paar gebrochene Rippen. Dazu Schmerzen in Nacken und Schulter, möglicherweise war sie gebrochen. 
Um 16 Uhr hörte der Regen auf. In 90 Minuten würde es dunkel werden, und er wusste, dass seine beste Chance darin bestand, einen Unterschlupf zu finden. Er hatte keinen Handyempfang, aber das GPS zeigte seinen Standort an. Auf der Karte entdeckte Ben einen Tempel, der nicht weit entfernt war. 
Zuerst musste er aus dem Gurtzeug aussteigen. Um sich loszuschnallen, musste Ben aufstehen. Von Schmerzen geplagt, schwang er sich zu einem Baum am Hang und stieß sich mit beiden Füßen ab. Beim Rückschwung setzte er die Füße auf den Boden. Mit seinen fast erfrorenen Händen löste er die Schnallen und stopfte Gurtzeug und Ausrüstung in die Tasche.
Auf der Karte war kein Weg durch den dichten Wald eingezeichnet, aber in der Schlucht entdeckte er einen Fluss. Ben kletterte über umgestürzte Bäume und den felsigen Abhang hinunter. Jeder Schritt tat weh. An einer Stelle rutschte er auf Felsbrocken aus und landete hüfttief im Wasser.
Nachdem er sich eine Stunde lang am Fluss entlanggearbeitet hatte, hatte er keinen Weg zum Tempel gefunden. Die Dunkelheit brach schnell herein, also setzte er sich ein neues Ziel: ein Handysignal zu finden. Zentimeter für Zentimeter bahnte er sich einen Weg die steile Schlucht hinauf. 
Zweimal verspürte Ben den Drang, sich hinzulegen und zu schlafen. „Steh auf!“, befahl er sich dann. „Du hast dich nicht dein ganzes Leben lang fit gehalten, um jetzt aufzugeben.“ Auf halbem Weg den Hang hinauf blieb er an einem Baum stehen. Ben zitterte und fürchtete, die kalte Nacht nicht zu überleben. Seine letzte Hoffnung auf Rettung war, ein Handysignal zu bekommen. 
„Bitte, bitte“, flehte Ben, als er sein iPhone aus der Jackentasche zog. Erleichtert stellte er fest, dass der Bildschirm einen Signalbalken anzeigte.
Um 5.15 Uhr schrieb er Dave eine SMS: „Hey Leute, ich bin in Schwierigkeiten.“ Sein Freund antwortete: „Wir kommen und holen dich.“
Ben übermittelte seinen Standort an die McDonald-Brüder, die schnell Kleidung und ein Erste-Hilfe-Set einpackten und sich auf die 90-minütige Fahrt machten. Sie teilten Bens Aufenthaltsort auch in der WhatsApp-Gruppe der Gleitschirmflieger. Daraufhin wanderten Ziegenhirten zu der Stelle und führten Ben zu ihrem Steinhaus. Kurz danach trafen Dave und Trace ein.


Ben war mit etwa 60 km/h vom Himmel gefallen. 

Hätte sich sein Schirm nicht in den Bäumen verfangen, hätte er den Aufprall nicht überlebt. Die einzige andere dokumentierte Überlebende einer ähnlichen Tortur war Ewa Wisnierskain, deren Gleitschirm 2007 in Australien in eine Cumulonimbus gezogen wurde. Auch sie wurde ohnmächtig, erlangte aber noch in der Luft das Bewusstsein und landete sicher. Zusammen mit Trace flog Ben nach Kanada. Im Krankenhaus wurden Frakturen festgestellt. Er trug mehrere Wochen lang eine Halskrause, und seine Rippen, Trommelfelle und Augen heilten, er konnte seine Arbeit in der Arztpraxis wieder aufnehmen. 
Zwei Wochen nach dem Unfall ging Ben mit Lindsey und den Kindern auf Halloween-Tour. „Ich hätte diesen schönen Moment verpasst und viel Traurigkeit verursacht“, sagt er nachdenklich.