Gesundheit

Autor: Reader's Digest Book

Der medizinische Unterschied zwischen Männern und Frauen

Jung, weiß und vor allem männlich – das war lange Zeit der Prototyp, an dem sich medizinische Forschung und Lehre orientierten. Die daraus resultierenden Erkenntnisse und Medikamente wurden einfach auf den Rest der Bevölkerung übertragen. 

Eine junge Frau und ein junger Mann sthen vor einer Wand und schauen sich lächelnd an.

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Mittlerweile konzentriert sich die medizinische Forschung vor allem auf die körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen und der Herkunft aus verschiedenen Regionen der Welt. Denn neuere Erkenntnisse legen nahe, dass Männer und Frauen mehr als nur das Geschlecht trennt. 

Die geschlechtsspezifische medizinische Forschung der letzten Jahre, die Gendermedizin, hat eine Reihe von Unterschieden zwischen den Geschlechtern entdeckt, die nicht sofort ins Auge fallen. Dazu gehört beispielsweise, dass Frauen und Männer auf die gleiche medizinische Behandlung unterschiedlich reagieren. Diese zunächst überraschenden Ergebnisse finden zunehmend Beachtung und werden selbst gezielt erforscht: Warum wirkt ein Medikament bei Männern besser als bei Frauen? Warum überleben Männer eine Krankheit besser als Frauen – oder umgekehrt? Warum treten bestimmte Krankheiten bei einem Geschlecht häufiger auf als beim anderen? Warum leiden Frauen viel stärker unter den Nebenwirkungen von Medikamenten? 

Mehr als der „kleine Unterschied“

Ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern also doch größer als bisher angenommen? Die Antwort lautet ja und nein. Natürlich ist der Körper von Frauen und Männern sehr ähnlich. Aber es zeigt sich, dass es überall kleine Unterschiede gibt. So wird z. B. der Stoffwechsel durchaus von den Geschlechtshormonen beeinflusst und ist daher bei den Geschlechtern nicht völlig gleich. Eines der bekanntesten Beispiele für Unterschiede im Stoffwechsel ist der Abbau von Alkohol. Bei der Verstoffwechselung von Alkohol spielt das Enzym CYP2E1 eine entscheidende Rolle. Es ist bei Männern aktiver als bei Frauen. Außerdem enthält der Körper von Frauen weniger Wasser als der von Männern, in dem sich der Alkohol lösen kann. Deshalb ist die Blutalkoholkonzentration bei gleicher Alkoholmenge bei Frauen höher als bei Männern. Außerdem bauen Frauen Alkohol langsamer ab als Männer. Ein weiteres besonders wichtiges Enzym ist CYP3A4. Es kommt sowohl in der Leber als auch im Darm vor. Es baut körpereigene Hormone, aber auch etwa die Hälfte der gängigen Medikamente ab. Die Aktivität von CYP3A4 ist bei Frauen fast doppelt so hoch wie bei Männern. Das bedeutet, dass Frauen Medikamente, an deren Abbau dieses Enzym beteiligt ist, schneller abbauen als Männer.

Auf der anderen Seite wirken einige Medikamente, z. B. Morphin (Schmerzmittel) und Neuroleptika (Psychopharmaka), bei Frauen stärker als bei Männern. Das Schmerzmittel ASS (Acetylsalicylsäure), das sehr häufig zur Vorbeugung von Blutgerinnseln eingesetzt wird, wirkt bei Männern gut, bei Frauen dagegen nicht. Nebenwirkungen von Medikamenten sind bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern. Diese Beispiele zeigen, dass ein Medikament bei Frauen und Männern unterschiedlich stark wirken kann, langsamer abgebaut oder unterschiedlich gut vertragen wird.

Darüber hinaus zeigen Frauen und Männer bei gleicher Grunderkrankung nicht unbedingt die gleichen klinischen Symptome. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist der Herzinfarkt, der sich bei Frauen häufig mit anderen Symptomen äußert als bei Männern und deshalb von Ärzten oft nicht richtig diagnostiziert wird. Das biologische Geschlecht eines Menschen wirkt sich also auch auf Organfunktionen und Gewebeeigenschaften aus – schließlich trägt jede Körperzelle männliche oder weibliche Chromosomen in sich. Der Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Umgebung Gesundheit und Krankheit sind immer auch mit sozialen Aspekten verbunden, deren Einfluss bis heute oft unterschätzt wird. So hängt unsere Gesundheit etwa unmittelbar davon ab, ob wir uns regelmäßig bewegen oder gesund ernähren.

Wenn man diese Argumentation aber weiter denkt, kommt man zu dem Schluss, dass ein gesunder oder ungesunder Lebensstil oft direkt mit der sozialen Lage des Betroffenen zusammenhängt. Armut und Krankheit gehen in manchen Fällen Hand in Hand. Wenn jemand z. B. arbeitslos ist oder bei der Arbeit starkem Stress ausgesetzt ist, kann sich dies direkt oder indirekt auf die körperliche Gesundheit auswirken. Es ist bekannt, dass die Situation von Männern und Frauen in der Gesellschaft – sei es im Berufsleben, in der Familie oder in der sozialen Stellung – bis heute keineswegs gleich ist, und so bringen die Geschlechter auch aus sozialer Sicht unterschiedliche gesundheitliche Voraussetzungen mit. 

Wie Frauen und Männer mit Krankheit umgehen

Die Bedeutung dieser sozialen Faktoren für die Gesundheit wurde erst in den letzten Jahren erkannt. Heute beschäftigt sich die Gendermedizin, die ihre Wurzeln unter anderem in der feministischen Forschung und in der Forschung zur öffentlichen Gesundheit (engl. Public Health) hat, genau mit diesem Thema. Sie betrachtet die Geschlechter also nicht nur aus medizinischer, sondern vor allem aus sozialer Perspektive. Das englische Wort „Gender“ bezeichnet nicht das biologische, sondern das soziale Geschlecht, also die Zuweisung einer Geschlechterrolle durch andere, die sich zwar am biologischen Geschlecht orientiert, aber darüber hinaus gesellschaftsspezifische Aspekte beinhaltet. Typische Geschlechterrollen bestimmen unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit weit mehr, als vielen bewusst ist – und zwar sowohl auf Seiten der Patienten als auch auf Seiten der Ärzte. Wie sonst ist es zu erklären, dass Frauen deutlich mehr, aber im Durchschnitt auch preisgünstigere Medikamente verschrieben bekommen als Männer und ihren eigenen Gesundheitszustand oft schlechter einschätzen? Warum ist die Lebenserwartung von Männern trotz besserer medikamentöser Versorgung deutlich niedriger als die der Frauen? Warum sind Frauen deutlich häufiger von Schmerzerkrankungen betroffen als Männer? Warum zeigen Rehabilitationsmaßnahmen nach schweren Operationen oder Erkrankungen bei den Geschlechtern unterschiedliche Erfolge? 

Der Umgang mit Gesundheit 

Die Antwort auf diese Fragen liegt zum einen in den feinen biologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern, zum anderen in einer Medizin, die die Unterschiede zwischen den Geschlechtern kaum berücksichtigt und an traditionellen Rollenbildern festhält. Denn diese lassen Frauen und Männern verschieden mit der eigenen Gesundheit umgehen. Männer zeigen häufiger Risikoverhaltensweisen wie Alkoholkonsum, Rauchen und ungesunde Ernährung. Zudem achten sie weniger auf gesundheitliche Probleme und sprechen seltener darüber – oft aus Angst, als „Jammerlappen“ zu gelten. Die Sorge um den eigenen Körper ist Männern noch immer nicht in Fleisch und Blut übergegangen, sie sind bis heute vor allem davon geprägt, in Beruf und Gesellschaft zu funktionieren und Leistung zu bringen. Dennoch: „Beim Gesundheitsbewusstsein der Männer hat sich erfreulich viel getan“, sagt Prof. Elmar Brähler, Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig. 
Das zeigt auch eine Studie der Berliner Charité: Junge Männer zwischen 16 und 28 Jahren hängen deutlich weniger dem alten Rollendenken an. 75 % der befragten Männer zeigten nicht das Muster eines dominant-männlichen Rollenbildes und sind offener für die eigene Gesundheitsvorsorge. Vielleicht ändert sich dadurch in Zukunft auch die Einstellung der Männer zu Vorsorgeuntersuchungen wie der Krebsfrüherkennung – bislang nimmt in Deutschland nur etwa jeder siebte Mann solche Angebote wahr, bei den Frauen ist es immerhin fast die Hälfte. Gesundheit ist ein „Frauenthema“ Frauen sprechen häufiger über ihre Gesundheit und gehen auch deutlich häufiger zum Arzt als Männer. Dennoch schätzen sie bei Befragungen ihren Gesundheitszustand oft schlechter ein als Männer. Insgesamt übernehmen Frauen aber von vornherein mehr Verantwortung für ihren Körper, ihr Verhalten ist im Durchschnitt gesundheitsbewusster. 

Traditionelle Rollenbilder 

Ein weiteres Problem der Medizin ist, dass häufig ein traditionelles Geschlechterbild zugrunde gelegt wird. Dies kann eine korrekte Diagnose erschweren. Häufig neigen Ärzte dazu, weibliche Beschwerden eher psychologisch zu interpretieren und körperliche Erkrankungen bei Frauen zu übersehen. Auffällig ist, dass der weitaus größte Teil der Psychopharmaka Frauen verschrieben wird. Gleichzeitig stellt die Annahme, Depressionen seien eine typisch weibliche Erkrankung, eine Hürde für die Diagnose von Depressionen bei Männern dar. Dies kann schwerwiegende Folgen haben. Auch wenn viele Krankheiten vorwiegend bei einem Geschlecht auftreten, ist es wichtig, im Einzelfall ganzheitlich zu denken. 


Gutes Beispiel Rehabilitation 

Etwas anders verhält es sich bei den Rehabilitationsmaßnahmen, die von Frauen in geringerem Umfang in Anspruch genommen werden bzw. seltener ärztlich verordnet werden als von Männern. Dabei stehen Frauen mit ihrem gesundheitsbewussteren Verhalten der Rehabilitation positiv gegenüber. Wird die „Reha“ jedoch stationär durchgeführt, ergeben sich für Frauen häufig gravierende Probleme. Denn meist sind sie es, die die Verantwortung für Familie und Haushalt tragen und für die es im Alltag oft schwierig ist, eine Vertretung zu organisieren. Zudem ist die Vorstellung noch weit verbreitet, dass eine Krankschreibung nach einer stationären Rehabilitation nur für den Beruf, nicht aber für die Hausarbeit gilt – mit der Folge, dass viele Frauen während der Krankschreibung noch mehr Haus- und Familienarbeit leisten. Dies führt dazu, dass der Rehabilitationsverlauf nach einem stationären Aufenthalt bei Frauen, die die alleinige Verantwortung für die Familie tragen, deutlich schlechter ist als bei Männern und Frauen häufig wieder erkranken. 


All diese Tatsachen finden heute sowohl in der Forschung als auch in der Gesundheitspolitik mehr Beachtung. Insbesondere die Frauengesundheitsforschung ist in letzter Zeit stark in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Seit einigen Jahren geben verschiedene europäische Länder sogenannte „Frauengesundheitsberichte“ in Auftrag, die die gesundheitliche Situation von Frauen in der jeweiligen Gesellschaft dokumentieren und die gewonnenen statistischen Ergebnisse bewerten. Eine besondere Vorreiterrolle nehmen dabei Österreich und Deutschland ein, die seit vielen Jahren besonders aktiv geschlechtsspezifische Forschung fördern. Auch in der Schweiz widmet man sich zunehmend diesen Fragen. Noch nicht so weit fortgeschritten ist die Männergesundheitsforschung, deren Notwendigkeit vielleicht auch deshalb oft nicht gesehen wird, weil die medizinische Forschung ohnehin zu einem großen Teil an (und von) Männern durchgeführt wird. 

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gibt zumindest seit einigen Jahren einen Männergesundheitsbericht heraus und bietet auf ihrer Internetseite Informationsmaterial zu allen Themen der Männergesundheit an. Ein besonders wichtiger Aspekt der Männergesundheitsforschung ist die deutlich geringere Lebenserwartung von Männern; zudem wirkt sich die soziale Lage bei Männern noch stärker auf die Gesundheit aus als bei Frauen. So sind arbeitslose Männer mit geringem Einkommen häufiger krank als Frauen in vergleichbarer sozialer Lage. 

Keine Männer- und Frauenmedizin 

Eines will die Gendermedizin nicht: die Medizin in zwei Lager spalten. „Wir dürfen keinesfalls alles auf die Zweigeschlechtlichkeit reduzieren und müssen letztlich immer differenzieren, was wir an Ergebnissen wirklich brauchen“, betont Angelika Voß, Humanbiologin und Genderforscherin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Das soziale und biologische Geschlecht ist nur ein Aspekt in der erweiterten Sichtweise der Medizin, auch sozialer Status, Beruf, Alter und vieles mehr müssen berücksichtigt werden. Dennoch gibt es unter (männlichen) Medizinern immer noch Vorbehalte gegenüber einer geschlechtersensiblen Medizin. „Eine Frage, die mir bei Vorträgen immer wieder gestellt wird, ist, ob Gendermedizin nicht auch etwas mit Feminismus zu tun hat“, sagt Voß. Offenbar befürchten manche Mediziner, dass eine Wissenschaft mit solchen Ursprüngen unseriös oder einseitig sei. Dabei strebt die Gendermedizin eine gleichberechtigte Frauen- und Männerforschung an, die die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern berücksichtigt. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist wiederum die Etablierung geschlechtsspezifischer Lehrinhalte in der medizinischen Ausbildung. Diese Entwicklung steht in Deutschland, Österreich und der Schweiz noch am Anfang. Sie ist in der Lehre kaum und in den medizinischen Prüfungen überhaupt nicht vorgesehen.