Gesundheit

Autor: Patricia Pearson

Geh doch endlich zum Arzt, Mann!

Ein medizinisches Wunder: Männer brauchen (scheinbar) keine Behandlung.

Ein Arzt spricht mit seinem Patienten

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©istockfoto.com / andresr

Warum bocken Männer wie ein Rodeopferd, wenn es darum geht, einen Arzt aufzusuchen? Seit Jahrhunderten verzweifeln Ehefrauen, Töchter und Mütter weltweit an dieser Frage. Dass es kein Ammenmärchen ist, hat die Cleveland Clinic in den USA gerade erst bestätigt: 65 Prozent aller Männer zögern bei gesundheitlichen Problemen den Besuch beim Arzt so lange wie möglich hinaus. Bei uns zu Hause läuft das in etwa so ab: „Ambrose, dein Kopf fällt ab.“ „Ach, meinst du?“ Kurzer Blick in den Spiegel. „Tja, könnte sein.“ „Findest du nicht, du solltest damit zum Arzt gehen?“ „Sollte ich wohl.“
Zwei Tage später: „Ambrose, dein Kopf wird nur noch von einer Sehne gehalten. Hast du den Arzt angerufen?“ „Äh, nein. Ich wollte, aber dann musste ich zum Baumarkt, weil ich noch ein paar Sachen brauchte. Ich repariere doch gerade die alte Farbrüttelmaschine, die ich im Keller gefunden habe, weißt du? Vielleicht brauchen wir sie mal.“ „Soll ich einen Termin für dich vereinbaren?“ „Ja, gut, meinetwegen. Danke.“ Eine Woche später spreche ich den auf dem Boden liegenden Kopf meines Gatten an: „Ambrose, warst du heute beim Arzt?“ „Nein, ich habe den Termin verschoben. Ich musste eine Live-Aufnahme von Mike Oldfields Album Tubular Bells aus dem Jahr 1973 herunterladen und das dauerte länger, als ich dachte. Irgendwas stimmt mit unserem Internetanschluss nicht, wir sollten den Anbieter wechseln.“ „Und wann gehst du zum Arzt?“ „Vielleicht nächsten Dienstag, wenn ich da Zeit habe.“
Mein Ehemann hat sich 14 Jahre lang vor dem Zahnarztbesuch gedrückt. Erst als die Schmerzen absolut unerträglich wurden, musste ich alles stehen und liegen lassen und ihn hinfahren. Danach ging er allerdings nie wieder zum Zahnarzt. Er knirschte lieber mit den Zähnen, als sich einen einzigen ziehen zu lassen. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, aber es gelang ihm, dem lästigen Nerv seinen Willen aufzuzwingen. Ich glaube aber, es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich ihn in die zahnmedizinische Notfallpraxis fahren darf.

 

Doch warum all dieses Theater?

Weil das echte Männer nun mal so machen. Selbst Männer, die beispielsweise ohne zu murren Babys betreuen oder gern Kuchen backen, verwandeln sich – sobald ihre Partnerin „Schatz, solltest du damit nicht besser zum Arzt gehen?“ fragt – in stoische Soldaten, die lieber auf dem Schlachtfeld sterben als den Mund aufzumachen und „Ah“ zu sagen. Mein Vater und mein Ehemann kamen früher bestens miteinander aus, weil sie in vielem ganz ähnlich dachten. Irgendwann setzte bei meinem Vater die Demenz ein, was mir nur dank eigener Beobachtungen und „Doktor Google“ klar wurde. Zur Untersuchung ist er nie gegangen, er ist einfach irgendwann friedlich im Schlaf gestorben.

 

Meine Mutter und ich haben da ein ganz anderes Verhältnis

Wir verfolgen unermüdlich die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitsbereich und halten uns gegenseitig per E-Mail und SMS auf dem Laufenden. Sie leitet mir jeden Monat den Gesundheits-Newsletter der Harvard University weiter und schickt mir Artikel über neue Mittel gegen Pilzerkrankungen oder Angststörungen. Im Gegenzug berichte ich ihr, was ich über Darmkrebs, Herzerkrankungen oder Muttermale herausgefunden habe. Selbstverständlich intensivierten wir unsere Bemühungen, als die Corona-Pandemie ausbrach – und die Männer in unserer Familie wollten natürlich überhaupt nichts darüber wissen.

Laut Cleveland Clinic stellen mehr als 60 Prozent aller Männer ihre Diagnosen selbst

Sie fragen nicht etwa jemanden um Rat oder recherchieren online – wo denken Sie hin? Das wäre ja so, als würde man Fremde nach dem Weg fragen. Stattdessen reimen sie sich irgendetwas zusammen: „Dass ich 40 Grad Fieber habe, liegt bestimmt nur an diesem Fisch, den ich gestern gegessen habe.“ Verirren sich Männer dann tatsächlich mal in eine medizinische Einrichtung, kommen der Studie zufolge viele nicht auf die Idee, dem Arzt von sämtlichen Symptomen zu berichten („Er hat ja auch nicht gefragt.“). Das heißt, ihr Gegenüber sollte im Idealfall über ausgeprägte hellseherische Fähigkeiten verfügen – sofern das Problem nicht so offensichtlich ist wie bei meinem Mann, der mit dem Kopf unter dem Arm in der Praxis erscheint.
Und so geht es seit gefühlten Ewigkeiten. Schon 1985 fand man in einer Studie heraus, dass der Testosteronspiegel bei Männern beim Betreten eines Krankenhauses um 50 Prozent sinkt. Ich unterhielt mich mit einer Freundin über dieses Thema, als ihr 21-jähriger Sohn den Raum betrat. Sie fragte ihn: „Meinst du, es stimmt, dass Männer nicht zum Arzt gehen?“ „Na klar“, erwiderte er. „Das weiß doch jeder.“ „Und warum nicht?“ Er zuckte mit den Schultern. „Gesunder Menschenverstand.“
Wir lachten. Dann weinten wir. Mein Ehemann hat sich vier Monate lang mühsam durchs Haus geschleppt und etwas von „ein wenig Arthritis“ im Knie gemurmelt. Nachdem er endlich eingewilligt hatte, sich untersuchen zu lassen, wurde festgestellt, dass die Knorpelmasse im Knie komplett verschwunden war. Nächste Woche hat er einen Termin beim Spezialisten. „Wahrscheinlich wirst du ein künstliches Kniegelenk bekommen“, erklärte ich ihm. „Ich habe gelesen, dass sie einem danach für einige Tage eine Art Schmerzpumpe in den Oberschenkel implantieren.“ „Ein Implantat? In meinem Bein?“, brauste er auf. „Nicht mit mir!“ Ich wette, dass mein Mann den Eingriff absagen wird. Und wenn er sich dann nur noch kriechend bewegen kann, wird er erklären, dass ihm das schon immer am liebsten war.