Gesundheit

Autor: Melissa Greer

Leben mit ADHS

Ein neues Bewusstsein und genaue Diagnosetools helfen immer mehr Erwachsenen, deren ADHS-Erkrankung nie diagnostiziert wurde.

Illustration: bunte, stilisierte Köpfe mit bunt eingezeichnetem Gehirn

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Suzanne Smith* wuchs in der Überzeugung auf, dass sie an einer Lese- und Rechtschreibschwäche oder an einer sonstigen Lernbeeinträchtigung litt. Die Künstlerin aus Baltimore im US-Bundesstaat Maryland träumte während des Unterrichts vor sich hin und kritzelte in ihrem Heft herum, bis sie schließlich den Anschluss verpasste. Sie war ungeschickt, machte oft Sachen kaputt und schaffte es nicht, Ordnung zu halten. Als Kind galt sie als eigenwillig und exzentrisch – was man auf ihre kreative Persönlichkeit zurückführte.
„Mit der Zeit fand ich verschiedene Wege, damit umzugehen und ich akzeptierte, dass ich so war“, berichtet sie. „Aber dann kam ich an einen Punkt, an dem ich wirklich kaum noch etwas hinbekam, und die Beziehung mit meinem Mann darunter litt.“ Smith sagt von sich selbst, sie sei „unorganisiert“, sie könne sich nur schlecht konzentrieren, sodass ihr alltägliche Haushaltsarbeiten wie Kochen oder Putzen schwerfielen. Sie recherchierte im Internet und wandte sich an die Psychologische Klinik der University of Maryland, USA, die Beurteilungen zur psychischen Gesundheit anbietet. Nach einem Test im August 2024 erhielt sie schließlich die Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper-Aktivitätsstörung (ADHS)  – im Alter von 54 Jahren. Damit gehört sie zu einer wachsenden Zahl von Personen, bei denen ADHS erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird.

Corona-Pandemie brachte viele Betroffene dazu, sich Hilfe zu suchen

Als während der Coronapandemie viele verstärkt Zeit online verbrachten, suchten wesentlich mehr Betroffene ärztliche Hilfe. Experten haben dafür eine Erklärung: Millionen Erwachsene, deren Symptome in der Kindheit übersehen oder falsch interpretiert wurden, erkannten sich plötzlich in TikTok-Videos, Facebook- oder Instagram-Beiträgen zu dem Thema wieder. Zwischen 2021 und 2023 stieg die Anzahl der #ADHS-Aufrufe auf TikTok von zwei Milliarden auf 20 Milliarden. Etwa zeitgleich nahmen die Google-Suchanfragen nach „ADHS“ stark zu. 
„Erwachsene mit einer nicht diagnostizierten ADHS haben häufiger Beziehungsprobleme, bleiben mit ihren Schul- und Berufsabschlüssen nicht selten unter ihren Möglichkeiten und konsumieren öfter Drogen“, sagt Dr. Lenard Adler, Professor für Psychiatrie und Direktor des ADHS-Programms für Erwachsene an der Grossman School of Medicine der New York University, USA. „Eine nicht erkannte und unbehandelte ADHS hat schwerwiegende Folgen, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft“, warnt er. Besonders betroffen von fehlenden Diagnosen sind Frauen und Randgruppen. „Als Kind wurde ich als verhaltensauffällig abgestempelt“, erzählt Laura Gallant, eine Website-Entwicklerin aus Toronto, Kanada. Sie hatte Probleme in der Schule und erfuhr erst 2021, im Alter von 34 Jahren, dass sie ADHS hat. 
Die gute Nachricht ist, dass Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen, die bislang durchs Raster fielen, nun endlich die nötige Hilfe bekommen. Laut einer Studie von Epic Research, einer Organisation, die Patientendaten analysiert, hat sich die Zahl der Frauen, die eine ADHS-Diagnose erhielten, von 2020 bis 2022 nahezu verdoppelt.

Was ist ADHS? 

ADHS ist eine Entwicklungsstörung, die sich bereits in der Kindheit zeigt. Man unterscheidet zwischen drei Erscheinungsformen: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität/Impulsivität und eine Kombination aus beidem. Der unaufmerksame ADHS-Typ kann schlecht zuhören, vermeidet Aufgaben, die Konzentration verlangen und lässt sich leicht ablenken. Der hyperaktive/impulsive Typ kann nicht still sitzen, nicht abwarten, bis er an der Reihe ist, und redet übermäßig viel. Manche werden einem Typus zugeordnet, bei den meisten ist eine Kombination der Symptome beider Typen zu beobachten. 
Bis vor Kurzem galt ADHS als eine Störung bei Kindern. Doch die Fachleute wissen heute, dass die Symptome im Erwachsenenalter nicht einfach verschwinden. „Die neuesten Daten zeigen, dass etwa 90 Prozent der Kinder mit ADHS auch als Erwachsene noch damit zu tun haben“, berichtet Dr. Margaret Sibley, klinische Psychologin am Seattle Children’s Hospital und Pro­fessorin für Psychiatrie und Verhaltensforschung an der Medizinischen Fakultät der University of Washington, USA. „Bei den meisten wächst es sich nicht einfach aus.“
Neurowissenschaftler glauben, dass im Gehirn von Menschen mit ADHS der Spiegel von Dopamin und Noradrenalin niedriger ist. Dabei handelt es sich um zwei wichtige Botenstoffe, die unsere Exekutivfunktionen unterstützen. Das bedeutet, dass wir sie zur Steuerung unserer Gefühle, Gedanken und Handlungen benötigen. 
Mit bildgebenden Verfahren stellte man zudem fest, dass bei ADHS die Funktion bestimmter neuronaler Regelkreise gestört wird. Die Nervenzellen (Neurone), bilden Netzwerke, die Signale durch das Gehirn senden. In einem Gehirn mit ADHS ist die Verknüpfung dieser Netzwerke beeinträchtigt und die Übertragung der Botschaften daher erschwert. Ein Gehirn mit ADHS ist im Wesentlichen anders verdrahtet als ein neurotypisches Gehirn. „Auch die Gene spielen eine Rolle: Oft ist nicht nur ein Familienmitglied von dieser Störung betroffen“, erklärt Sibley.

Diagnose von ADHS

Zur Diagnostik gehört eine umfassende Beurteilung durch eine Fachärztin oder einen Facharzt, mit Befragung der Betroffenen sowie deren Eltern oder anderen Familienmitgliedern. Es muss ein gewisser Grad an Beeinträchtigung vorliegen, das heißt, dass die Symptome die Person in irgendeiner Form einschränken. Sie müssen zudem vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sein, da es sich bei ADHS um eine Entwicklungsstörung handelt. Das allerdings erschwert die Diagnose, denn bei älteren Personen lässt sich nicht immer herausfinden, wie sie als Kind waren. 
Zu den Behandlungsmöglichkeiten gehören die kognitive Verhaltenstherapie, eine Art gesprächsbasierte Psychotherapie, die den Betroffenen hilft, ihre Denk- und Verhaltensmuster zu verstehen und zu ändern. Arzneimittel werden ebenso eingesetzt. Stimulanzien wie Ritalin und Adderall erhöhen den Dopamin- und Noradrenalinspiegel im Gehirn, was die Konzentrationsfähigkeit verbessert. Auch nicht-stimulierende Medikamente erhöhen den Noradrenalinspiegel. Sie haben zudem weniger Nebenwirkungen, es kann allerdings länger dauern, bis der Patient oder die Patientin darauf anspricht.


Jungen versus Mädchen

„ADHS betrifft beide Geschlechter, in der Vergangenheit wurde bei Jungen jedoch drei bis vier Mal häufiger ADHS diagnostiziert als bei Mädchen“, berichtet Dr. Joshua Langberg, klinischer Psychologe, Professor für Psychologie und Direktor des Zentrums für soziales und emotionales Wohlbefinden von Jugendlichen an der Rutgers University, USA. „Mittlerweile wissen wir, dass dieser Unterschied nicht biologisch bedingt ist“, führt er aus. Während Jungen dazu neigen, nicht still sitzen und ihren Mund halten zu können, seien Mädchen eher unaufmerksam. Ihre Symptome würden dadurch leichter übersehen werden. „Ein Kind, das ruhig, unaufmerksam oder in Gedanken versunken in einer Klasse mit 25 bis 30 anderen Schülern sitzt, stellt nicht wirklich ein Problem dar“, erklärt Langberg. 
Lindsay Crockford und ihr Bruder sind beide von ADHS betroffen, doch ihre Erfahrung könnte unterschiedlicher nicht sein. Im Fall des Jungen wurde die Störung vor vielen Jahren diagnostiziert, als er acht war, während sie bei Crockford selbst erst mit 32 Jahren festgestellt wurde. „Bei meinem Bruder war es offensichtlich. Er ist sehr hyperaktiv, während ich eher unaufmerksam bin. Als Kind hat es mich entmutigt, weil ich mich in der Schule nicht so konzentrieren und lernen konnte, wie ich sollte“, erinnert sich Crockford. Später im Beruf stellte sie fest, dass sie viel Zeit mit Tagträumen verlor und Termine nicht einhalten konnte. Heute hat sie ein besseres Selbstvertrauen, seit sie weiß, was für sie funktioniert und wie sie ihren Alltag am besten bewältigt. Aber die späte Diagnose hat bei ihr auch Enttäuschung ausgelöst. „Ich dachte an all die Projekte, die ich in meinem Leben begonnen und nicht fertiggestellt habe. Hätte ich gewusst, wie mein Gehirn funktioniert, hätte ich mehr schaffen können“, bedauert Crockford.
„Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit ADHS, die keine Diagnose erhalten hatten, Scham oder ein geringes Selbstwertgefühl entwickelt haben“, weiß Dr. Judith Joseph, Psychiaterin. Wenn Sie ein Leben lang nicht die Unterstützung bekommen, die Sie brauchen, bedeutet das eine Menge Stress“, erläutert sie.


Einfluss der sozialen Medien

Die Aufmerksamkeit, die ADHS neuerdings im und durch das Internet zuteil wird, ist überwiegend positiv. Allerdings haben die zahlreichen nutzergenerierten Inhalte zu dem Thema vermutlich auch dazu geführt, dass die Definition der Störung oft breiter ausfällt als medizinisch nachgewiesen: So werden Unaufmerksamkeit und Konzentrationsschwäche mit ADHS gleichgesetzt, obwohl die Diagnose bei Weitem nicht so einfach ist.
Während der Coronapandemie, „in der viele stark gestresst waren, Strukturen und Unterstützung wegfielen, und es den Menschen allgemein nicht gut ging, lautete die Botschaft, die über die sozialen Medien verbreitet wurde, dass die Erklärung dafür eine nicht diagnostizierte ADHS sein könnte“, erzählt Sibley. Doch wer hat heutzutage keine Konzentrations­probleme?
In den USA kam es zwischen 2021 und 2023 zu Engpässen bei mehreren ADHS-Medikamenten, darunter Adderall und Vyvanse. Zu Beginn der Pandemie konnten die Leute nicht mehr in die Arztpraxen gehen. Telemedizin-Anbieter füllten die Lücke und stellten Rezepte aus. „Manche ließen die erforderliche Gründlichkeit bei ihren Diagnosen vermissen“, kritisiert Sibley und betont, dass eine schnelle Checkliste nicht ausreicht, um eine ADHS-Diagnose zu stellen. 

Im Juni 2024 wurden zwei Führungskräfte eines in Kalifornien ansässigen Telemedizin-Anbieters wegen Betrugs im Gesundheitswesen angeklagt: Sie hatten unter anderem ADHS-Medikamente, insbesondere Adderall, verschrieben, obwohl dies aus medizinischer Sicht nicht notwendig war. „Für eine ADHS-Diagnose bei Erwachsenen gibt es kein Schnellverfahren“, unterstreicht Dr. Adler. „Über ein Screening können zwar Personen mit einem Risiko identifiziert werden, aber das ist noch keine Diagnose. Eine umfassende Entwicklungsanamnese und ein Blick in die Kindheit sind auf jeden Fall notwendig, sei es per Telemedizin oder persönlich.“
Margaret Sibley und Lenard Adler gehören einer Arbeitsgruppe an, die von der US-amerikanischen Fach­gesellschaft für ADHS und Begleiterkrankungen ins Leben gerufen wurde, um neue Leit­linien für die Diagnose und Behandlung von ADHS bei Erwachsenen zu entwickeln. Diese sollen Mitte bis Ende 2025 veröffentlicht werden. Ziel ist es, Betroffenen genaue Diagnosen und die beste Behandlung zu ermöglichen, um ihre Lebensqualität zu verbessern. 


Mit ADHS leben

Um sicherzustellen, dass Sie oder eine Ihnen nahestehende Person ordnungsgemäß auf ADHS untersucht wird, sollten Sie zunächst mit einer Ärztin oder einem Arzt Ihres Vertrauens über Ihre Vermutung sprechen. „Eine gute Ärztin wird bei der Untersuchung mit Ihnen kooperieren. Sie wird Ihnen nicht nur sagen, was Sie haben, sondern in einem Gespräch mit Ihnen die Sachlage beleuchten“, so Sibley. 
„Sie wird gemeinsam mit Ihnen die richtige Behandlung festlegen, die aus einer Kombination von Medikation und Verhaltenstherapie bestehen könnte, zusammen mit einer guten Schlafhygiene und einer gesunden Ernährung“, erklärt Dr. Joseph und weist darauf hin, dass die letzten beiden Punkte bei einer ADHS-Behand­lung oft übersehen werden. Schlaf sowie Ernährung  unterstützen die Gehirngesundheit, was wiederum die exekutiven Funktionen verbessern kann, sodass die Symptome leichter zu ertragen sind. „Schlafen Sie mindestens acht Stunden und essen Sie bevorzugt Lebensmittel, die reich an Omega-3-Fettsäuren sind, wie Fisch und Nüsse. Achten Sie zusätzlich auf eine ausreichende Zufuhr an Mikronährstoffen wie Zink, Eisen und Vitamin D.“

(Arbeits-)Alltag an die Krankheit anpassen

Die Festlegung einer Routine war für Lindsay Crockford ein wichtiges Hilfsmittel. Ihre Psychiaterin empfahl ihr eine kognitive Verhaltenstherapie sowie einige Organisationstechniken, die ihr halfen, einen umsetzbaren Zeitplan aufzustellen. Nachdem sie täglich protokolliert hatte, wie sie ihre Zeit verbrachte, konnte Crockford erkennen, wann sie Phasen der „ADHS-Lähmung“ hatte – Momente, in denen sie sich am meisten überfordert fühlte, Dinge aufschob und sich einfach nicht konzentrieren konnte. Mit diesem Wissen kann sie nun ihre Tage besser gestalten. „Mir ist aufgefallen, dass es eigentlich immer zur gleichen Tageszeit war. Also achte ich jetzt darauf, dass ich alle wichtigen Vorhaben in meine produktive Zeit lege“, beschreibt sie ihr Vorgehen.
Crockford weiß inzwischen auch, welche Arbeitsumgebung für sie am besten ist. In Großraumbüros fällt es ihr noch schwerer, sich zu konzentrieren, sodass sie Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung verwendet und Ablenkungen weitgehend vermeidet. Dr. Joseph hofft, dass Arbeitsplätze in Zukunft an die Bedürfnisse von Menschen mit ADHS angepasst werden. Diese Vorkehrungen gibt es für Kinder und Schüler, aber kaum für Erwachsene – obgleich sie mehr Verantwortung übernehmen und die Unterstützung mehr denn je benötigen.
„Es gibt heute allgemein ein größeres Bewusstsein über die Vielfalt von Denk- und Verhaltensweisen, die von der neurotypischen Norm abweichen“, fasst Dr. Joseph zusammen. „Deshalb und aufgrund der Geschichten, die in den sozialen Medien geteilt werden, wird die Akzeptanz größer.“ Seit Smith die Diagnose ADHS erhalten hat, blickt sie hoffnungsvoll in die Zukunft. „Ich werde alles tun, was nötig ist“, beteuert sie. „Ich bin jetzt 54, doch das heißt nicht, dass ich zu alt bin. Ich will unbedingt ein neues Leben anfangen. Ich bin bereit.“

*Name von der Rdaktion geändert