So können Sie wieder besser hören
Fortschritte in Technik und Medizin geben Menschen mit Hörproblemen neue Hoffnung.

©
Der Weg eines Tons vom Ohr bis ins Gehirn dauert nur Millisekunden. Zunächst dringen die Schallwellen ins Ohr ein und versetzen das hauchdünne Trommelfell in Schwingungen. Diese wiederum bringen zwei dahinter sitzende Gehörknöchelchen zum Vibrieren. Daraufhin beginnt ein drittes Gehörknöchelchen, das an der Cochlea sitzt, zu schwingen. Dann wird es wirklich interessant. Die Cochlea, auch Hörschnecke genannt, ist ein erbsengroßer, knöcherner Hohlraum, der wie ein Schneckenhaus geformt und mit Flüssigkeit gefüllt ist. Sie ist mit Zehntausenden Haarzellen ausgekleidet, an deren Spitze bündelweise feine Röhrchen, die Stereozilien, sitzen.
%%%contend-ad-gesundheit%%%
Das dritte vibrierende Gehörknöchelchen schlägt an die Cochlea, als würde es an eine Tür klopfen: Die Flüssigkeit in der Cochlea gerät in Bewegung, und die Haarzellen schwingen wie Seeanemonen im Meer. Durch die Bewegung setzen die Haarzellen Neurotransmitter frei, die wiederum elektrische Signale auslösen. Diese werden über den Hörnerv ins Gehirn geleitet und im auditorischen Cortex in Informationen umgewandelt. Die empfindlichen Stereozilien und Haarzellen haben nur eine begrenzte Lebensdauer. Unser Gehör lässt nach, weil diese im Laufe eines Lebens ständig durch Geräusche beansprucht werden. Lärm – sowohl länger anhaltender, nicht sehr lauter als auch kurze, starke Impulse – schädigt die Haarzellen, dadurch verlieren sie ihre Funktion. Dieser Hörverlust wird als Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit) bezeichnet und kommt sehr häufig vor. Bei einer leichten bis mittleren Altersschwerhörigkeit sind bestimmte Konsonanten schlechter zu verstehen, sodass sich „Hallo, Vanessa, schön, dich zu sehen!“ anhört wie „Hallo Vane..a, schön .ich zu .ehen!“
Bei Warnsignalen schnell handeln
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind etwa 1,5 Milliarden Menschen weltweit schwerhörig. Diese Zahl könnte bis 2050 auf 2,5 Milliarden ansteigen. Für Menschen mit hochgradiger Schwerhörigkeit gibt es heute schon Cochlea-Implantate. Dabei wird eine Kombination aus Verstärker, Prozessor und Sender hinter dem Ohr platziert und ein Empfänger operativ unter der Haut eingesetzt. Neben dem altersbedingten Hörverlust gibt es noch andere, weniger verbreitete Formen. Eine davon ist der Hörsturz, auch plötzlicher sensori-neuraler Hörverlust genannt, der reversibel ist, wenn er früh behandelt wird. Er kann unvermittelt auftreten oder sich innerhalb weniger Tage entwickeln. Die Ursachen dafür können Infektionen, Schädel-Hirn-Traumata oder Autoimmunerkrankungen sein. Oft ist nur ein Ohr betroffen. Die Beschwerden werden in der Regel mit Kortikosteroiden behandelt, mit Medikamenten, die Entzündungen bekämpfen und Schwellungen mindern. Die Medikamente werden entweder direkt ins Ohr gespritzt oder oral in Form von Tabletten verabreicht. Mithilfe dieser Behandlung kann der Hörverlust verringert oder sogar rückgängig gemacht werden, wenn schnell gehandelt wird.
„Ich habe häufig erlebt, dass Menschen, die auf einem Ohr plötzlich schlecht hören, dem keine Bedeutung beimessen“, sagt Susan Scollie, Professorin an der School of Communication Sciences and Disorders und Direktorin des National Centre for Audiology an der Western University in Ontario, Kanada. „Doch wenn man zu lange mit einer Behandlung wartet, kann der Hörverlust dauerhaft sein.“
Mittelschwerer Hörverlust, der sich über einen längeren Zeitraum entwickelt, wird standardmäßig durch den Einsatz von Hörgeräten behandelt. Auch wenn sie eine große Hilfe sind – viele Hörgeräteträger berichten, wie schwierig es sei, einem Gespräch zu folgen, wenn es eine Menge Hintergrundgeräusche gibt.
Höheres Demenzrisiko bei Schwerhörigen
Aber ist es wirklich so schlimm, wenn wir bestimmte Geräusche nicht hören? Diese Frage kann mit einem klaren Ja beantwortet werden. Die Auswirkungen von Schwerhörigkeit sind Gegenstand zahlreicher neuer Studien, und die Erkenntnisse weisen alle in dieselbe Richtung: Schwerhörigkeit ist nicht nur ein Ärgernis, sondern ein ernsthaftes Gesundheitsproblem. „Hörverlust galt lange als unvermeidliche Begleiterscheinung des Alterns und wurde eher als belanglos eingestuft“, sagt Frank Lin, Direktor des Cochlear Center for Hearing and Public Health an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, USA. „Aber in den letzten zehn Jahren hat sich diese Sichtweise geändert.“
Forscher haben nun einen Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und anderen Gesundheitsproblemen hergestellt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Schwerhörige stürzen, ist mehr als doppelt so hoch wie bei gut Hörenden. Weitere mögliche Folgen sind Angstzustände und Schlafprobleme. Menschen, die schlecht hören, haben auch ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen: Eine 2020 in der Fachzeitschrift Gerontologist veröffentlichte Untersuchung australischer Forscher, die 35 Studien mit rund 150000 Teilnehmern auswerteten, ergab, dass Schwerhörigkeit bei älteren Personen mit einem höheren Risiko für Depressionen verbunden ist. Die Forscher vermuten, dass Menschen, die schwerhörig werden, weniger ausgehen und ihre sozialen Kontakte vernachlässigen – vielleicht, weil sie Gesprächen aufgrund von Hintergrundgeräuschen nur noch schwer folgen können. Ein Leben in Isolation kann der Grund dafür sein, dass Hörverlust mit Einsamkeit und Depression in Verbindung gebracht wird. Isolation trägt erwiesenermaßen zu psychischen Erkrankungen und einem erhöhten Demenzrisiko bei.
2020 veröffentlichte die Fachzeitschrift The Lancet einen Bericht über zwölf veränderbare Risikofaktoren für Demenz – dabei steht Hörverlust für Menschen mittleren Alters an erster Stelle. Die Autoren empfehlen bei Schwerhörigkeit, Hörgeräte zu benutzen, um die negativen Folgen für die geistigen Fähigkeiten abzumildern.
Der Grund für diesen Zusammenhang könnte sein, dass Menschen, die weniger soziale Kontakte pflegen, auch weniger anregende Gespräche führen. Bei Menschen mit leichtem Hörverlust ist die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, doppelt so hoch, bei mittlerem Hörverlust dreimal und bei Menschen mit hochgradigem Hörverlust fünfmal so hoch.
Hörgeräte machen diese Entwicklung zwar nicht rückgängig und stellen auch nicht die Hörqualität her, die wir einmal hatten, aber sie können vielleicht helfen, nachteilige Auswirkungen auf die geistige Gesundheit zu verhindern. Lin führt derzeit eine groß angelegte Studie durch, um herauszufinden, ob Hörgeräte das Demenzrisiko verringern und dazu beitragen, Stürze zu verhindern. Die Ergebnisse sollen Mitte 2023 vorliegen.
Wiederherstellung des Gehörs
Forscher untersuchen die Möglichkeit, die Haarzellen und Stereozilien der Cochlea nachwachsen zu lassen, um das Gehör wiederherzustellen. Die Inspiration dazu kommt aus der Tierwelt: Bei Vögeln und Reptilien wachsen diese Zellen nach, so wie unser Körper regelmäßig neue Hautzellen bildet. Neue Haarzellen in der Cochlea würden bedeuten, dass wir wieder normal hören und selbst bei Hintergrundgeräuschen Gesprochenes leichter herausfiltern könnten.
Etwa die Hälfte der altersbedingten Schwerhörigkeit hat eine genetische Komponente, sagt Richard Smith, Arzt und Leiter der Molecular Otolaryngology and Renal Research Laboratories an der University of Iowa, USA. Sein Team bietet Gentests für Menschen mit Hörverlust an. Die präzise Bestimmung der Ursache gibt Aufschluss über die Weiterentwicklung der Schwerhörigkeit. Smith ist überzeugt, dass solche Gentests in Zukunft häufiger durchgeführt und neue Lösungen ganz individuell auf jeden Patienten zugeschnitten werden.
„Die riesigen Fortschritte bei verschiedenen Gentherapien zur Behandlung von Hörverlust lassen die Forschungswelt jubeln“, sagt er. „In nicht allzu ferner Zukunft wird es neben Hörgeräten und Cochlea-Implantaten weitere Optionen geben.“ Einige Unternehmen entwickeln genbasierte Lösungen für Hörverlust bei Erwachsenen. „Mithilfe der Gentherapie sollen die geschädigten Haarzellen nachwachsen“, erläutert Jonathon Whitton, Audiologe, Neurowissenschaftler und Senior Vice President für klinische Forschung und Entwicklung bei Decibel Therapeutics in Boston, USA. Das Unternehmen befasst sich derzeit mit sechs Gentherapien, von denen drei auf die Regeneration von Haarzellen abzielen. Bei den anderen geht es um Ursachen für Hörverlust und um den Schutz des Gehörs bei Menschen, die sich einer Chemotherapie unterziehen müssen, die häufig zu Hörverlust führt. Zwei Verfahren befinden sich bereits in der klinischen Erprobung. Andere vielversprechende Therapien werden in den nächsten Jahren folgen. Das Aufkommen der regenerativen Medizin hat bei Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten neue Hoffnung geweckt, sagt Whitton.
Neue Technologien für Hörgeräte
Während potenzielle Innovationen noch in der klinischen Erprobung stecken, sind die Hörgeräte der nächsten Generation besser als je zuvor. Seit ihrer Einführung Mitte der 1990er-Jahre haben sich digitale Hörgeräte enorm weiterentwickelt. „Mittlerweile haben wir schon die vierte oder fünfte Generation“, sagt Susan Scollie. „Viele dieser Verbesserungen waren geringfügig, aber zusammen ergeben sie ein besseres Produkt. Das heutige Hörgerät vereint die Technologie von sieben oder acht Geräten“, erklärt die Expertin.
Moderne Hörgeräte können je nach Umgebung automatisch zwischen verschiedenen Programmen wechseln: Sie funktionieren zum Beispiel anders, wenn der Träger im Auto Musik hört oder in einem vollen Restaurant einem Gespräch lauscht. Aktuelle Modelle verfügen auch über Funktionen zur Unterdrückung von Störgeräuschen und über Mikrofone, die automatisch die Ausrichtung ändern. Per Bluetooth können Hörgeräte drahtlos mit Handys verbunden werden, um zu telefonieren oder Musik zu hören. „Wir hören besser, wenn die Stimme aus dem Handy in beide Ohren geht“, sagt Scollie, „und es ist bequemer, die Hörgeräte als hochwertige Kopfhörer zu verwenden.“ Man kann auch mittels einer App die Einstellungen des Hörgeräts verändern.
Einige Hörgeräte zählen sogar schon die Schritte der Trägerinnen und Träger. Scollie geht davon aus, dass der nächste große Entwicklungsschritt biometrische Sensoren sein werden. Dann könnten Hörgeräte – ähnlich wie eine Smartwatch – Herzschlag und Körpertemperatur messen. „Tatsächlich lassen sich diese Werte besser im Ohr als am Handgelenk erfassen“, sagt sie.
Rezeptfreie Hörgeräte
Neue Vorschriften in den USA haben 2022 den Verkauf rezeptfreier Hörgeräte ermöglicht. In vielen europäischen Ländern sind Hörgeräte bereits im freien Handel erhältlich. Patienten müssen also nicht mehr unbedingt zum HNO-Arzt gehen, um sich ein Rezept für ein Hörgerät ausstellen zu lassen. Das birgt aber auch Risiken: Was ist beispielsweise, wenn der plötzliche Hörverlust durch eine Krankheit verursacht wird, die sofort behandelt werden muss? Nachteile ergeben sich auch, wenn die persönliche Anpassung und Nachbetreuung entfallen. Andererseits könnten die rezeptfreien Hörgeräte als Einstieg für Menschen dienen, die sich sonst vielleicht keines kaufen würden. Denn einer Studie zufolge tragen mehr als 80 Prozent der US-Amerikaner, die unter Hörverlust leiden, keine Hörgeräte.
Ich frage Jonathon Whitton von Decibel Therapeutics, ob er es für möglich hält, dass bei den heute 40-Jährigen Hörverlust in zehn oder 20 Jahren mit Medikamenten und nicht mit Technologie behandelt werden könnte. „Ja“, sagt Whitton und verweist auf das wachsende Interesse von Forschern, dieses Problem zu lösen. „Viele Unternehmen werden mit dem Ziel gegründet, genau das zu erreichen.“