Wie gut helfen Abnehmspritzen?
Was Sie über die neuen Diabetes-Medikamente wissen sollten, die angeblich die Pfunde purzeln lassen.

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Seit ich denken kann, ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht mit meinem Gewicht beschäftigt habe“, sagt Jennifer Blackburn*, 49, aus Toronto, Kanada. Jahrzehntelang probierte sie verschiedene Diäten und Medikamente aus – mit wenig Erfolg. Bis sie im Herbst 2022 mit der Einnahme von Ozempic beginnt, dem Diabetes-Medikament, das zum Synonym für Gewichtsabnahme bei Prominenten geworden ist. „Es hat mein Leben verändert“, sagt sie.
Im letzten Quartal 2022, in dem auch Blackburn ihre Verordnung erhielt, wurden in den USA mehr als neun Millionen Rezepte für Ozempic und ähnliche Medikamente ausgestellt. Weltweit leiden rund 890 Millionen Erwachsene an Adipositas. Kein Wunder, dass Medikamente dagegen heiß diskutiert werden. Unklar ist, wer sie nehmen sollte, welche Risken sie mit sich bringen und ob sie bei Bedarf ausreichend und zu erschwinglichen Preisen angeboten werden können.
Wie wirken die neuen Adipositas-Medikamente?
Ozempic mit dem Wirkstoff Semaglutid wurde 2017 in den USA für die Behandlung von Typ-2-Diabetes zugelassen. Nachdem der dänische Hersteller Novo Nordisk den Zusatznutzen des Medikaments – erhebliche Gewichtsverluste – erkannt hatte, entwickelte er ein neues Mittel: Wegovy, mit einer höheren Semaglutid-Dosis, wurde 2021 zur Behandlung von Adipositas zugelassen. Ein weiteres Produkt des Pharmaunternehmens ist Rybelsus, das Semaglutid in Tablettenform zur Behandlung von Typ-2-Diabetes enthält. Alle drei Präparate sind inzwischen auch in der EU sowie der Schweiz zugelassen. Außer Semaglutid gibt es noch den Wirkstoff Tirzepatid, der hierzulande unter dem Namen Mounjaro bei Typ-2-Diabetes sowie Adipositas eingesetzt wird. Ein weiteres Antidiabetikum, Liraglutid, ist unter dem Markennamen Saxenda zur Gewichtsreduktion erhältlich.
Aufgrund der gestaffelten Freigaben dieser Medikamente und Schwankungen bei der Verfügbarkeit erhielten Patienten ohne Typ-2-Diabetes (wie Blackburn) die Diabetes-Medikamente zur Behandlung von Adipositas. Dieser sogenannte „Off-Label-Use“, also ein Medikament außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs zu verordnen, ist nicht unüblich.
Semaglutid und Tirzepatid sorgen bei Patienten mit Typ-2-Diabetes dafür, dass die Bauchspeicheldrüse bei hohem Blutzucker mehr Insulin produziert und verhindern zudem, dass die Leber zu viel Zucker freisetzt. Doch die Stoffe haben eine dritte Wirkung, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: Als Rezeptor-Agonisten von GLP-1 (Glucagon-like Peptide 1) imitieren sie die Wirkung dieses Darmhormons, das ein Signal der Sättigung an das Gehirn sendet. Das vorgetäuschte Sättigungsgefühl hilft den Patienten, weniger zu essen, was zu einem Verlust von 15 bis 20 Prozent des Körpergewichts führt. Tirzepatid hat den Vorteil, dass es zusätzlich ein Dünndarmhormon aktiviert, das ebenfalls das Sättigungszentrum im Gehirn anspricht.
Betroffene spritzen sich diese Wirkstoffe unter die Haut von Oberschenkel, Bauch oder Oberarm (Saxenada täglich, die anderen wöchentlich). Die meisten müssen das ihr Leben lang fortführen, andernfalls kehren das alte Hungergefühl und damit die Pfunde zurück. „Ich erkläre den Patienten von Anfang an, dass es sich hierbei um eine langfristige Therapie handelt“, sagt Dr. Nidhi Kansal, Spezialistin für Adipositas-Therapien bei Northwestern Medicine in Chicago, USA.
Wem können diese Medikamente helfen?
Ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 oder höher spricht man von Adipositas, was ein erhöhtes Risiko für verschiedene Krankheiten bedeutet, unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlafapnoe. Doch der BMI ist eine reine Maßzahl und sagt allein genommen nichts über die Gesundheit oder Fitness eines Menschen aus. Bei Fettleibigkeit kann eine Regulationsstörung der Stoffwechselhormone vorliegen. Diese führt dazu, dass der betroffene Körper nicht auf richtige Ernährung sowie Sport reagiert. „In diesen Fällen können Medikamente eine Wende bringen“, weiß Dr. Kansal. Seit die US-amerikanische TV-Moderatorin und Schauspielerin Oprah Winfrey und andere Influencer davon schwärmen, wie sie durch diese neuen Medikamente abnehmen, wächst das Interesse in der Bevölkerung aber durchweg – auch in Europa. Die hohe Nachfrage hat zu Lieferengpässen geführt. 2023 hatten Typ-2-Diabetes-Patienten Mühe, Ozempic zu bekommen. Auch für 2024 werden Engpässe erwartet.
Diejenigen, die dennoch an diese Medikamente gelangen, müssen mit hohen Ausgaben rechnen. Für Wegovy zum Beispiel belaufen sie sich in Deutschland auf rund 300 Euro pro Monat, in der Schweiz auf etwa 190 Franken. Für Präparate, die lediglich für Adipositas zugelassen sind – wie Wegovy – lehnen Krankenversicherungen die Kostenübernahme oft ab. Seit März 2024 zahlen die Kassen zumindest in der Schweiz unter bestimmten Voraussetzungen für Wegovy.
Zwischenzeitlich sind Dutzende weitere Abnehmmittel in der Entwicklungsphase. Sie werden mit Sicherheit auch die Preise beeinflussen. In den USA hat der Pharmakonzern Eli Lilly and Company, Hersteller von Mounjaro, einen Direktvertrieb seines Produkts im Internet gestartet. Aus Sorge, die Wunscharznei von Ärzten nicht verschrieben zu bekommen, könnten sich Interessierte an nicht kontrollierte Gesundheitsportale und Abnehmkliniken wenden, um nicht zugelassene Versionen der Medikamente ohne Rezept zu erhalten. „Das ist sehr besorgniserregend, denn so wissen wir nicht mehr, was die Patienten wirklich nehmen“, so die Endokrinologin Amy Warriner, Direktorin der Klinik für Adipositas der University of Alabama in Birmingham, USA. Selbst wenn man online dubiose, rezeptfreie Angebote findet: Nicht ohne Grund sind Ozempic, Wegovy und ähnliche Medikamente in der EU sowie der Schweiz verschreibungspflichtig.
Wie gut wirken die Abnehmspritzen?
„Nur 5 bis 10 Prozent der Adipositas-Patienten können ihr Gewicht allein durch Veränderungen ihrer Ernährung und ihres Lebensstils reduzieren“, erklärt Fatima Cody Stanford, die als Ärztin und Wissenschaftlerin am Massachusetts General Hospital, USA, zu Adipositas forscht. Eine hohe Erfolgsrate (zwischen 50 und 85 Prozent, je nach Verfahren) haben bariatrische Operationen, bei denen ein großer Teil des Magens entfernt wird. Dieser Eingriff kommt jedoch nicht für jeden infrage und erfordert noch dazu die Bereitschaft, sich unters Messer zu legen. Orale Medikamente, die „alte Generation“ der Diätpillen, wie eine Kombination aus Bupropion und Naltrexon (in Europa als Mysimba bekannt), verhelfen meist zu einem durchschnittlichen Gewichtsverlust von 5 Prozent.
Diese Arzneien sind weitaus erschwinglicher als die neuen, erzielen aber nicht so gute Ergebnisse.
Zum Vergleich: Unter der Einnahme von Wegovy erreichten die Patienten laut Studien durchschnittlich einen Gewichtsverlust von 15 Prozent. Mit dem Wirkstoff Tirzepatid wurden sogar 20 Prozent und mehr erzielt, sofern Anwender die Behandlung mit Sport und einer veränderten Ernährungsweise kombinierten. „Das sind noch nie da gewesene Ergebnisse“, so Daniel Drucker, Endokrinologe am Lunenfeld-Tanenbaum Research Institute in Toronto, Kanada. Er trug dazu bei, das Hormon zu identifizieren, das zur Entwicklung dieser Medikamente führte. Allerdings wirken die Präparate nicht immer. „Das wird nicht genug thematisiert. Ich habe Patienten, etwa ein Viertel, die nur minimal oder überhaupt nicht darauf ansprechen“, betont Dr. Stanford. „Deshalb nenne ich es nicht Wundermittel, denn ein Wunder ist es nur, wenn es wirkt.“
Was können die neuen Arzneimittel noch?
„Der Nutzen dieser Medikamente geht über die Anzeige auf Ihrer Waage hinaus“, erklärt Daniela Hurtado Andrade, Endokrinologin an der Mayo Clinic in Jacksonville im US-Bundesstaat Florida. Die bislang größte Studie zu Semaglutid, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, ergab, dass der Wirkstoff das Risiko von Todesfällen durch Herzinfarkte, Schlaganfälle und kardiovaskuläre Ereignisse um 20 Prozent senkt. Die Patienten der Studie waren mindestens 45 Jahre alt, übergewichtig oder fettleibig und litten an einer kardiovaskulären Erkrankung. Nur 3,5 Prozent von denen, die Semaglutid bekamen, entwickelten Diabetes, verglichen mit 12 Prozent in der Placebo-Gruppe.
Eine in der Fachzeitschrift Hypertension der American Heart Association veröffentlichte große Studie zeigte zudem, dass Probanden mit Adipositas, die Tirzepatid-haltige Präparate nahmen, einen wesentlich niedrigeren Blutdruck hatten. „Für viele bedeuten diese Medikamente eine enorme Lebensveränderung. Sie führen zu einer erheblichen Gewichtsabnahme und bringen starke positive Auswirkungen mit sich: etwa eine verbesserte Mobilität, die Rückbildung von Diabetes oder einer Fettleber“, erläutert Dr. Warriner.
Da wir bereits wissen, dass GLP-1-Rezeptor-Agonisten Entzündungen des Herzmuskels, der Nieren und der Leber hemmen, hegen Forscher die Hoffnung, dass sich diese Wirkung auch auf entzündliche Erkrankungen des Gehirns bis hin zu Parkinson und Alzheimer übertragen lässt.
Sind die Abnehmmittel wirklich die Lösung?
Trotz vieler Vorteile gibt es definitiv eine Kehrseite: Zwar werden psychische Probleme nicht als mögliche Nebenwirkungen von Ozempic genannt, aber die Europäische Arzneimittel-Agentur hat angekündigt, das Risiko von Gedanken an Selbstverletzung oder Selbstmord unter Einfluss von Ozempic und ähnlicher Mittel zu untersuchen. Im Beipackzettel von Wegovy wird vor Depressionen und Suizidgedanken gewarnt. Häufige Begleiterscheinungen sind Magen-Darm-Probleme wie Übelkeit, Verstopfung oder Durchfall, die laut Dr. Kansal bei 15 Prozent der Patienten auftreten. Als mögliche schwere Nebenwirkungen von Ozempic gelten Bauchspeicheldrüsenentzündung, Nierenversagen, Probleme mit der Gallenblase und Schilddrüsenkrebs.
Im August 2023 wurden Eli Lilly and Company sowie Novo Nordisk wegen Schadenersatzansprüchen verklagt, weil ihre Medikamente angeblich zu Gastroparese führten, einer Magenlähmung, die starke Schmerzen, Erbrechen und Dehydrierung mit sich bringt. Bis Februar 2024 fasste man mehr als 55 Klagen gegen Ozempic wegen Körperverletzung in einer Sammelklage zusammen, der sich bis zu 10.000 Kläger anschließen könnten. Die Unternehmen bestreiten die Vorwürfe (bis zum Redaktionsschluss im April 2024).
In einem Bericht der Fachzeitschrift Journal of the American Medical Association wurde ein Zusammenhang zwischen den GLP-1-Rezeptor-Agonisten für Gewichtsabnahme und einem Risiko für schwere Magen-Darm-Probleme hergestellt. Demnach litten 10 von 1000 Personen, die Semaglutid bekamen, an einer Magenlähmung. „Eine Rate von 1 Prozent erscheint zunächst einmal wenig, aber angesichts der Millionen von Patienten, die diese Medikamente nehmen, könnten Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende betroffen sein“, erklärt der Hauptautor des Berichts, Mohit Sodhi von der University of British Columbia in Vancouver, Kanada.
Experten zufolge liegen genug Informationen über die Medikamente vor, damit Patienten, die diese Präparate aus medizinischen Gründen benötigen und sie von Ärzten verschrieben bekommen, sich sicher fühlen können. Doch wissen wir nicht, wie sich eine jahrzehntelange Einnahme auswirkt, oder welche langfristigen Folgen eine schnelle Gewichtsabnahme haben kann. Es gibt bereits Bedenken hinsichtlich einer Abnahme der Muskelmasse sowie der Knochendichte.
Trotz all ihres Potenzials scheinen die neuen Mittel nichts gegen das Stigma von Adipositas ausrichten zu können. „Es ist ein Mythos, dass Adipositas eine Entscheidung ist“, sagt Dr. Stanford. „In Wirklichkeit handelt es sich um eine Krankheit.“ Und doch urteilt die Öffentlichkeit hart über fettleibige Menschen – oftmals verurteilen diese sich auch selbst. „Sie nehmen sich als Versager wahr und glauben, dass sie mogeln, wenn sie Medikamente gegen ihre Krankheit nehmen“, so Dr. Kansal. „Bei keiner anderen Diagnose denken wir so.“
Jennifer Blackburn hat mit Ozempic dauerhaft 16 Kilogramm abgenommen und eine neue Einstellung zu ihrem Körper wie Leben gewonnen. Sie trinkt keinen Alkohol mehr, ist beruflich erfolgreicher und verreist viel. „Ich bin zufriedener, selbstbewusster und selbstbestimmter“, so Blackburn. „Es geht um so viel mehr als nur das Gewicht – es ist, als sei mir eine Last von den Schultern genommen.“