Menschen

Autor: Annette Lübbers

Auge in Auge mit der angriffslustigen Dogge

Ein kleiner Ort in der Eifel: Ein Hund greift seine Besitzerin an. Günter Wagner, der zufällig vorbeikommt, stellt sich dem Tier entgegen.

Günter Wagner half der Frau, die von ihrem eigenen Hund angegriffen wurde

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©© Jürgen Bindrim

Günter Wagner hat früher als Postbote gearbeitet und bis heute führt er im Nebenerwerb einen landwirtschaftlichen Betrieb in Blankenheim, einem kleinen Ort in der Eifel. Am Abend des 19. Dezember 2021 versorgt der 66-Jährige die Tiere, gegen 18 Uhr macht er sich auf den Weg zur Tankstelle. Sein Pick-up fährt nämlich buchstäblich mit den letzten Tropfen. Der sechsfache Großvater befindet sich gerade auf einer kleinen Anhöhe der wenig befahrenen Bundesstraße, als seine Scheinwerfer eine Gestalt am Boden erfassen. „Ist jemand überfahren und liegen gelassen worden?“, fragt er sich im ersten Augenblick und bremst scharf ab. Im nächsten Augenblick registriert er den riesigen Hund, der sich über den Menschen beugt, der reglos und auf dem Rücken in der Einmündung eines Wanderparkplatzes liegt. Es ist eine Frau. Wagner meint, eine Spanische Dogge zu erkennen, bestimmt mehr als 50 Kilo schwer. Er registriert entsetzt, dass sich der Hund in die Schulter der Frau verbissen hat. Wagner schaltet die Warnblinkanlage ein und hupt. Die Dogge hebt nicht einmal den Kopf. Zwei, drei Sekunden zögert Günter Wagner. Kann er es mit diesem massigen und völlig außer Kontrolle geratenen Hund wirklich aufnehmen? Aber hat er überhaupt eine Wahl? Wenn der Hund mit seinem nächsten Biss die Kehle der Frau erwischt, wäre dies ihr Todesurteil!

Der Hund scheint außer Kontrolle!

Wagner holt tief Luft. Dann reißt er die Fahrertür auf, springt aus seinem Pick-up. Normalerweise hat er immer Gerätschaften dabei: einen Vorschlaghammer, eine Axt oder eine Mistgabel. Ausgerechnet heute liegen nur zwei 10-Liter-Reservekanister auf der Ladefläche. „Bitte helfen Sie. Helfen Sie mir!“, hört er die Frau am Boden flehen. Der ehemalige Postbote greift sich die Kanister und geht auf den Hund zu. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte. Das Tier schaut nicht auf. Seine kräftigen Kiefer halten jetzt den Oberarm seines Opfers umklammert. Trotz der Kälte trägt die Frau nur Jeans und ein dünnes T-Shirt. Hat sie Schuhe und Jacke im Kampf mit der Dogge verloren? Ihr Gesicht, die Schulter und der Oberarm sind blutverschmiert.

Mehrmals schlägt Günter Wagner mit dem Kanister auf die Dogge ein

Dann steht Wagner bei dem Hund, der weiterhin völlig auf sein Opfer konzentriert ist. Mit aller Kraft schlägt er die Kanister auf den Kopf des Tieres. Wieder und wieder. Endlich lässt die Dogge die Frau los und weicht einen Meter zurück. Sie knurrt nicht. Sie bellt nicht. Aber sie starrt Wagner an. Der weiß: Wenn er jetzt zurückweicht oder auch nur den Blick senkt – dann wird der Hund ihn höchstwahrscheinlich angreifen. Immer wieder schlägt er die leeren Kanister scheppernd aneinander und brüllt: „Hau ab! Hau endlich ab!“ Noch mal und noch mal. Schließlich wendet die Dogge sich ab und verschwindet in der Dunkelheit. Aber hat sie wirklich aufgegeben? Oder lauert das blutrünstige Tier einfach nur außerhalb der Reichweite der Scheinwerfer von Wagners Pick-up?

Der 66-Jährige wagt nicht, sich zu der Frau herunterzubeugen. Falls die Dogge noch da ist, wäre dies eine Einladung, sich auf ihn zu stürzen. „Können Sie mich hören?“, fragt er die Frau. „Ja“, antwortet sie mit schwacher Stimme. Sie scheint zu keiner Bewegung fähig. „Alles wird gut. Ich rufe jetzt den Rettungswagen“, spricht der Retter ihr Mut zu. Er setzt sich in den Pick-up, öffnet das Fenster auf der Fahrerseite, und alarmiert per Handy die Polizei.

Die Dogge ist tatsächlich verschwunden 

Dann heißt es warten. In diesen qualvoll langen Minuten redet Wagner beruhigend auf die Frau ein. Endlich braust ein Rettungswagen heran. Zwei Sanitäter springen heraus. Einer schneidet die Kleidung der Schwerverletzen auf, um ihre Wunden zu versorgen. Wenig später hilft Günter Wagner dabei, sie auf die Trage zu betten und in den Rettungswagen zu schieben. Gleich darauf ist sie auf dem Weg ins Krankenhaus.
Ein Feuerwehrfahrzeug fährt vor. Die Männer leuchten mit Scheinwerfern den Schauplatz aus, aber die Dogge ist nirgends zu entdecken. Kurz danach trifft auch ein Polizeifahrzeug ein. Der Retter gibt den Beamten seine Personalien und schildert noch einmal, was geschehen ist. Dann darf er zur Tankstelle weiterfahren. „Als ich dort ankam, habe ich noch immer gezittert“, erinnert Wagner sich. „Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, ich hätte keine Angst gehabt. Ich war nur heilfroh, dass nicht meine Frau mit dieser Situation konfrontiert worden ist.“

Einige Monate später bekommt Günter Wagner auf seinem Hof Besuch. Die Frau, die er gerettet hat, will sich bedanken. Zu diesem Zeitpunkt liegen acht Operationen hinter ihr. Sie erzählt, sie habe die Spanische Dogge jahrelang besessen und diese sei immer lammfromm gewesen. Wagner hat seine eigene Meinung. „So einen Hund braucht niemand“, erklärt er. „Er ist dann am nächsten Tag auch eingeschläfert worden. Keine Ahnung, ob man ihn gefunden hat oder ob er selbst nach Hause gelaufen ist.“

Der Abend des 19. Dezember hat ihn noch lange beschäftigt. „Dieser Einsatz hätte ja auch schiefgehen können“, sagt er. „Aber ich hätte mir nie verziehen, wenn ich die Frau ihrem Schicksal überlassen hätte.“