Eine Reise zur Insel Syros, Königin der Kykladen
Die griechische Insel Syros und ihre Hauptstadt Ermoupoli blicken auf eine lange, bewegte Geschichte zurück.

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Als Ich meinem griechischen Freund George, der in Athen lebt, erzählte, dass ich die weltberühmten Inseln Mykonos und Santorin besuchen wollte, wurde er still. Das war ganz untypisch für George – er redet gern und viel. Irgendetwas stimmte nicht. „Es sind wunderbare Inseln“, sagte er nach einer langen Pause. „Aber die Wahrheit ist, sie sind so von Touristen überlaufen, dass es schwer ist, das ‚wahre‘ Griechenland durch die Menschenmassen zu sehen.“ Stattdessen, empfahl George, solle ich die nahe gelegene Insel Syros besuchen. „Ihre Geschichte ist faszinierend, die Strände sind nicht überfüllt, das Essen ist wunderbar und die Einheimischen sind überaus freundlich.“
Ich las ein wenig und fand schnell heraus, dass George mit seiner Liebe zu Syros nicht allein war. Ein Artikel in der Zeitschrift Travel & Leisure trug die Überschrift: „Vergessen Sie Mykonos und Santorin – Syros ist die griechische Insel, die Sie diesen Sommer unbedingt besuchen müssen.“ Ein griechischer Journalist stellte fest, dass viele der kleinen Dörfer der Insel „vom Tourismus praktisch unberührt“ seien, und beschrieb Syros als „ein verstecktes Juwel für viele ausländische Besucher“. Überzeugt. Ich buchte einen Flug nach Athen und eine Fähre nach Syros.
Auf zu den Kykladen!
Nach einer zweistündigen, 130 Kilometer langen Fahrt von Piräus aus Richtung Südosten läuft meine Hochgeschwindigkeitsfähre in Ermoupoli, dem Haupthafen von Syros, ein. Entlang der halbrunden Uferlinie finden sich Tavernen, Geschäfte und kleine Hotels, eine Handvoll Luxusjachten liegen vor Anker. Ermoupoli ist die Hauptstadt sowohl von Syros als auch der gesamten Inselgruppe der Kykladen – griechisch für „kreisförmig“. Zu meiner Überraschung gleichen die Häuser hier nicht Zuckerwürfeln, einem typischen Motiv auf Ansichtskarten aus Griechenland. Stattdessen herrscht eine kosmopolitische Ansammlung von drei- und vierstöckigen weißen, rosafarbenen, blauen und anderen pastellfarbenen Gebäuden vor. Das Design reicht von traditionell über neoklassizistisch und italienisch bis hin zu byzantinisch.
Diese eleganten Villen, kleinere weiß getünchte Häuser, Verwaltungsgebäude, ein kunstvoll gestalteter öffentlicher Platz und Geschäftsräume ziehen sich von der Uferpromenade aus zwei kegelförmige Hügel hinauf. Gekrönt werden sie von zwei hoch aufragenden Kirchen, eine römisch-katholisch, die andere griechisch-orthodox.
Mir wird klar, warum diese elegante, architektonisch reiche Stadt seit Langem als „Königin der Kykladen“ bezeichnet wird. George hatte recht; es gibt hier so viel zu entdecken. Um mir die Orientierung zu erleichtern, hat sich die Vizebürgermeisterin von Syros, Christianna Papitsi, bereit erklärt, mich am nächsten Morgen zu treffen und mir eine kurze Einführung in diese historische Insel zu geben.
Eher ein vorsichtiger Tourismus
Während wir in ihrem bescheidenen Büro in der Nähe des Industriemuseums an einer Tasse starken griechischen Kaffees nippen, frage ich Papitsi, wie Syros mit der wachsenden Zahl von Touristen umgehen wird – im vergangenen Jahr besuchten etwa 400.000 Menschen die Insel. „Sie meinen unsere ‚Gäste‘“, sagt sie und lächelt. „Wir glauben, dass wir alle Reisenden auf Syros als unsere Gäste und nicht als Touristen willkommen heißen sollten. Glücklicherweise haben wir nicht die Menschenmassen – und die Überfüllung – wie andere Reiseziele. Das gibt uns die Möglichkeit, die besonderen Qualitäten zu bewahren, die Syros einzigartig machen.“
Sie zählt eine Reihe von Programmen auf, die ihr Büro fördert, darunter Besuche in lokalen Weingütern, Picknicks auf dem Land, Koch- und Verkostungsworkshops mit Zutaten und Rezepten von der Insel, Töpferworkshops sowie Kunst- und Musikfestivals. „Eines unserer Hauptziele ist es, den Besuchern die lokale Kultur und die Traditionen unserer Insel näherzubringen und sie mit unseren Menschen bekannt zu machen“, sagt Papitsi.
Ihr vollständiger Titel lautet Vizebürgermeisterin für Tourismus, was die Bedeutung widerspiegelt, die Syros der Verwaltung seiner relativ jungen Tourismusindustrie beimisst. Im Gespräch wird klar, dass Papitsi sich der Chancen, aber auch der Fallstricke bewusst ist – wie Überfüllung, überhöhte Preise oder unkontrollierte Entwicklung –, die der Tourismus mit sich bringt.
In der Vergangenheit haben große Kreuzfahrtschiffe Syros weitgehend umfahren. Vor Kurzem aber hat die Insel zugestimmt, eine begrenzte Anzahl von Schiffen landen zu lassen. Während andere Reiseziele wie Venedig, Mykonos und Santorin versuchen, den Zustrom von Kreuzfahrtschiffen einzudämmen, indem sie „Eintrittsgebühren“ für Besucher erheben, heißt Syros das neue Geschäft vorsichtig willkommen. Papitsi weiß, dass im Jahr 2023 mehr als 800 Kreuzfahrtschiffe mit fast 1,3 Millionen Passagieren Santorin besuchten. Syros hingegen fahren nur etwa 30 Schiffe mit etwa 15 000 Passagieren pro Jahr an. „Wir gehen es langsam an“, erklärt Papitsi. „Wir wollen schützen, was wir glücklicherweise haben. Syros und seine Bewohner sind etwas ganz Besonderes!“
Es dauert nicht lange, bis ich aus erster Hand erfahre, wie „besonders“ die Inselbewohner sein können. Als ich durch die engen, gewundenen Gassen der Innenstadt gehe, sehe ich, wie Anwohner und Ladenbesitzer die glänzenden Marmorbürgersteige und die Fahrbahnen fegen.
Fasziniert davon schaue ich im Brillengeschäft Kois Optics vorbei und frage den Inhaber, ob diese Putzaktionen häufig vorkommen. „Jeden Morgen“, sagt Stavros Kois, der eine leuchtend blaue Brille trägt, die er selbst entworfen hat. „Jeder von uns tut, was er kann, um diese wunderbaren Straßen sauber zu halten. Schließlich wissen wir alle, was für ein Glück wir haben, hier zu leben!“
Viele Völker haben hier ihre Spuren hinterlassen
Die vielfältige Architektur von Ermoupoli zeugt von der faszinierenden Vergangenheit der Insel. Ihre Geschichte lässt sich viele Jahrtausende zurückverfolgen. Die Überreste der 5000 Jahre alten bronzezeitlichen Siedlung Kastri, etwa acht Kilometer nördlich von Ermoupoli, gehören zu den frühesten Siedlungen Griechenlands.
Im Mittelalter wurde Syros von Sizilianern, Türken, Arabern, Venezianern und anderen überfallen und geplündert. Um 1200 n. Chr. begannen Inselbewohner aus Venedig die Bergstadt Ano Syros zu errichten, die noch heute oberhalb von Ermoupoli steht, um sich vor Piratenangriffen zu schützen. Bis Mitte des 16. Jahrhunderts stand die Insel unter venezianischer Herrschaft, die einen starken katholischen Einfluss hinterließ. So sind zwar 95 Prozent aller Griechen griechisch-orthodox, aber auf Syros ist fast ein Drittel der Bevölkerung römisch-katholisch. Wenn heute gemischt-konfessionelle Paare auf der Insel heiraten, ist es üblich, die Hochzeitszeremonie in beiden Kirchen abzuhalten.
Nach fast 300-jähriger Herrschaft der Osmanen erlangte Griechenland 1830 seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Alsbald zogen Seeleute und Händler vom Festland und anderen Inseln nach Syros. Unter anderem dank des großen Hafens, der eine Werft beherbergte, die noch heute existiert, wurde die Insel bald das wirtschaftliche Zentrum des neuen Staates und schließlich des gesamten östlichen Mittelmeerraums. Syros war eine wichtige Station auf der Handelsroute zwischen Europa und dem Nahen Osten. Zudem trugen Industrien wie Textilien, Eisenhütten und Gerbereien zum Wachstum bei.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Syros schwer bombardiert und später von italienischen und deutschen Truppen besetzt. Sie schlossen die Fabriken und beschlagnahmten Ernten und Lebensmittel. Geschätzt 2300 bis 4000 Bewohner – von insgesamt 17 000 – verhungerten. Ein Telegramm, das ein Inselbewohner an einen Athener Beamten schickte, fasst die Tragödie zusammen: „Entweder schickt ihr uns Weizen oder Särge.“
Nach dem Krieg setzte sich der wirtschaftliche Niedergang von Syros fort, doch in den 1980er-Jahren hatte sich die Insel wieder etwas erholt, unter anderem dank der Wiedereröffnung der Schiffswerft und dem Fremdenverkehr. Heute erfreut sich Syros dank einflussreicher Bewohner, die sich dafür einsetzen, dass ihre Insel nicht dem unkontrollierten Tourismus zum Opfer fällt, eines wachsenden, zugleich aber sanften Anstiegs der Besucherzahlen.
Eine Kette der Liebe
In einem Juweliergeschäft im Zentrum von Ermoupoli, wohin ich mit meiner Frau Shari gekommen bin, um ein Geburtstagsgeschenk für sie zu finden, zeigt uns Besitzerin Chrisanthi Zarari selbst entworfene Halsketten. Dann sagt sie zu Shari: „Ich finde, du solltest diese tragen.“ Sie meint eine auffallend schöne, asymmetrische Halskette mit einer großen Schildpattperle an einem Ende und dünnen, polierten Steinstäben am anderen. „In Syros geht es ums Geben, und ich möchte dir diese Kette schenken.“
„Nein, das können wir nicht annehmen“, wehren Shari und ich ab.
„Aber wir beginnen eine Kette der Liebe“, sagt Zarari. „Nimm sie und schenke dann jemand anderem etwas, okay? Ich akzeptiere kein Nein. Willkommen auf Syros.“ Meiner Frau kommen die Tränen.
Später erzähle ich Christianna Papitsis Assistentin Elena Papagouna davon. Sie führt mich durch das Rathaus, ein dreistöckiges neoklassizistisches Kleinod aus dem 19. Jahrhundert. Papagouna ist nicht überrascht. „Der Geist des Schenkens ist eine alte Tradition in Griechenland“, sagt sie. „Auf Syros ist es eine Art, Besucher willkommen zu heißen.“
Syros ist nur 84 Quadratkilometer groß
Nach der Erkundung der Hauptstadt und dem Besuch einiger abgelegener Dörfer, habe ich beschlossen, mir die Insel vom glitzernden Wasser der Ägäis aus anzusehen. Im Fischerdorf Kini schließe ich mich Vaggelis Chavatzis an. In den nächsten vier Stunden gleiten wir mit seinem zweimotorigen, zehn Meter langen Schlauchboot über das Meer an der Westküste von Syros und erkunden zahlreiche wenig besuchte Buchten und unberührte Strände.
Unser erster Halt ist die Höhlenkapelle von Agios Stefanos. Einer lokalen Legende zufolge wurde sie von einem Fischer erbaut, um dem Heiligen Stephanus zu danken, nachdem der Fischer auf wundersame Weise einen Krakenangriff in den Gewässern vor der Küste überlebt hatte. An der nordwestlichen Spitze von Syros laufen wir in die Bucht von Grammata ein. Wir teilen uns den 150 Meter langen weißen Sandstrand mit nur einem weiteren Boot und vier anderen Personen. Chavatzis erklärt, dass diese geschützte Bucht seit der Antike ein Zufluchtsort für Seefahrer, Reisende und sogar Piraten war, wenn sich in der Ägäis heftige Stürme zusammenbrauten. Viele der Felsen auf der Nordseite der Bucht trügen Inschriften von Seefahrern, die den Göttern für ihre Rettung danken. „Einige von ihnen sind Tausende von Jahren alt“, berichtet Chavatzis, der auf Syros geboren und aufgewachsen ist. „Ich bringe viele Archäologen hierher.“
In einer anderen Bucht springe ich vom Schlauchboot und schwimme zu einem fast leeren Strand. Dabei staune ich über das kristallklare Meer, das Syros umgibt. Das mehr als 20 Grad warme Wasser ist etwa zwei Meter tief und hat eine Farbe, die von tiefem Saphir bis zu funkelndem Türkis reicht. Überall, wo ich schwimme, kann ich den Sand unter mir deutlich erkennen.
Zurück im Boot frage ich Chavatzis, ob mehr Touristen auf Syros mehr Geld in seiner Tasche bedeuten würden. Er gibt Gas. Dann sagt er: „Sicherlich. Aber Geld ist nicht alles. Wie fast jeder andere auf Syros möchte ich, dass die Insel so bleibt, wie sie ist. Es liegt in unserer Verantwortung.“ Diese Überzeugung habe ich während meiner Zeit auf Syros immer wieder gehört. Als wir zurück nach Kini fahren und die Sonne am späten Nachmittag über der Insel Kythnos zu sinken beginnt, die westlich von Syros liegt, erinnere ich mich an den Rat meines Freundes George: „Syros ist das wahre Griechenland. Erforsche es. Du wirst es mir danken.“ Das nächste Mal, wenn ich mit ihm spreche, werde ich das tun.