Angriff der Killerbienen
Während einer Klettertour bricht Ian bewusstlos zusammen. Um seinen Freund zu retten, muss Doug zurück auf den Berg.

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Doug April (46) und sein Freund und Kletterpartner Ian Cappelle (38) wollten im Hueco Tanks Park im El Paso County in Texas zusammen klettern. Gegen acht Uhr fuhr trafen sie sich und besprachen die Route. „Welche Tour gehen wir heute?“, fragte April. „Du bist schon zweimal die Indecent Exposure geklettert“, erwiderte Cappelle. „Die Route würde ich gern machen.“ April zögerte. Die Indecent Exposure ließ ihm jedes Mal einen Schauer den Rücken hinunterlaufen. Es war eine Furcht einflößende Route. Sie bestand aus zwei Abschnitten, und in beiden gab es Passagen, bei denen man ungesichert über einem 75 Meter tiefen Abgrund hing. Auf halber Strecke befand sich eine Gedenktafel für einen Studenten, der hier tödlich verunglückt war. Der Tag war perfekt: Die Sonne schien, eine leichte Brise wehte. Wenn Cappelle auf dem ersten Kletterabschnitt voraus stieg, würde April den zweiten übernehmen. Cappelle kletterte los, seine Finger suchten Halt an der Felswand. April und er waren über zwei Seile miteinander verbunden. Diese liefen durch Sicherungsgeräte an ihren Klettergurten und würden als Bremse dienen, sollte einer von beiden stürzen.
Cappelle befestigte sein Seil an den Haken, die in der Felswand verankert waren. Nach 20 Minuten erreichte der Kletterer den Felsvorsprung, der das Ende der Seillänge markierte, und sicherte sich. April stieg hinterher. In 40 Metern Höhe legten sie die erste kurze Pause ein. Auf dem zweiten Abschnitt ging April voran. Die schwierigste Stelle kam früh – ein großer Schritt nach rechts, darauf folgten ein paar Meter über schmale Felskanten, die den Fingerspitzen und Zehen gerade genug Halt boten. Die letzten Male hatte er dort Schwierigkeiten gehabt, doch diesmal schaffte er es auf Anhieb und erreichte einen Felsblock von der Größe eines Kühlschranks. „Mann, das war toll!“, rief er über die Felsspalte, ein paar Meter oberhalb seines Partners. Doch dann fragte er sich: „Wo kommen all diese Käfer her?“ Er schlug sich mit der Hand in den Nacken und sah nach unten. Im nächsten Moment entdeckte er einen Bienenschwarm, der aus einer Felsspalte herausflog. Das waren mehr Bienen, als er jemals gesehen hatte – wie in einem Horrorfilm. Wieder und wieder stachen sie zu. Schmerzen breiteten sich über seinen Hals, sein Gesicht und seinen Körper aus.
Wütende afrikanische Honigbienen!
Normale Honigbienen verteidigen ihr Revier gelegentlich, afrikanisierte Honigbienen dagegen sind um vieles aggressiver. Die afrikanischen Bienen wurden nach Brasilien eingeführt, um die dortige Honigproduktion anzukurbeln. Doch dann entkamen Exemplare, die sich mit europäischen Honigbienen kreuzten und sich rasch über Nord- und Südamerika ausbreiteten. Wenn afrikanisierte Honigbienen eine Bedrohung erkennen, entsenden sie ganze Horden. Diese verfolgen einen Menschen, bis die Gefahr beseitigt ist – bis zu 400 Meter weit. Bei 1000–1500 Stichen liegt das Risiko zu sterben bei 50 Prozent, schätzen Experten. Seit den 1950er-Jahren ist es durch afrikanisierte Honigbienen zu mehr als 1000 Todesfälle gekommen. Deshalb nennt man sie auch Killerbienen.
Sekunden später sah Cappelle, wie April von der Felskante sprang. Er spürte den Ruck an seinem Klettergurt, als das Seil vom Gewicht seines Partners straff gezogen wurde. „Lass mich runter, lass mich runter, schnell, schnell!“, brüllte April. Cappelle stand auf einem schmalen, einen Meter langen und einen halben Meter breiten Felsvorsprung. So schnell er konnte, ließ er die gesamte Seillänge von 60 Metern durch sein Sicherungsgerät laufen. Der Vorsprung verdeckte die Sicht auf seinen Partner April.
Da kam die erste Biene auf Cappelle zugeflogen. Er stand so still, wie er konnte, in der Hoffnung, dass sie vorbeifliegen würde. Stattdessen stach sie ihn in den Hals. Weitere Stiche folgten, einer, zwei, drei, vier. Cappelle spürte eine Welle des Schmerzes. Hektisch versuchte er, sein Gesicht zu schützen. Die Bienen attackierten Ohren, Augen, Nase und seinen Mund. Seine Gedanken überschlugen sich. Warum hatte Doug das Seil nicht gelöst, als er unten ankam? Dann könnte er das Seil hochziehen und sich selbst abseilen. Doch April hing wie ein schwerer Sack am Ende des Seils. Als er sich die Bienen vom Kopf wischen wollte, bildeten die Tiere einen zentimeterdicken „Heiligenschein“ um seinen Schädel und stachen wieder und wieder zu. Das Gift strömte durch seine Adern. Die Panik ließ nach und machte einem seltsamen Gefühl von Ruhe Platz. Dann brach er ohnmächtig zusammen.
Seit zehn Minuten hing April nun 20 Meter über dem Boden. Die Bienen stachen unablässig zu. „Lös das blaue Seil!“, schrie er zu Cappelle hoch. Er wollte, dass dieser sich selbst abseilte. Doch keiner der Männer konnte den anderen hören. Das ohrenbetäubende Summen übertönte alles. Langsam wurde Aprils Körper taub gegenüber den Schmerzen. Er spürte, wie die Bienen auf ihm herumkrabbelten, nahm jedoch die Stiche kaum noch wahr. Nach mehr als einem Dutzend Stiche können beim Menschen Schwindel, Übelkeit und Bewusstlosigkeit auftreten. April war Hunderte Male gestochen worden. Er musste nach unten klettern. Über den Berg verliefen zahlreiche Kletterrouten. Er musste eine finden. Etwa fünf Meter vor sich sah er einen Felshaken, der zu einer anderen Route gehörte. Er schwang darauf zu, erwischte ihn beim dritten Versuch und hakte sich ein. Anschließend löste er die Seile, die ihn mit Cappelle verbanden. An einem guten Tag wäre das keine besonders schwierige Route gewesen, doch April war mit Bienengift vollgepumpt, konnte nicht klar denken. Unten angekommen war ihm übel, und er fühlte sich wie im Delirium. Taumelnd lief er auf die Straße, als ein Parkranger neben ihm anhielt. „Ian“, stieß April hervor und zeigte auf die Felswand. Der Ranger und er riefen Cappelles Namen. Sie konnten ihn auf dem Felsvorsprung sehen. Zusammengekauert lag er da, während ihn eine dichte Bienenwolke umschwirrte. „Ian!“, schrie April erneut. Sein Freund rührte sich nicht.
Der Ranger hatte inzwischen Hilfe angefordert, doch es würde eine Stunde dauern, bis ein Rettungsteam aus El Paso eintreffen würde. Würden sie Cappelle bergen können? Wer sich hier nicht auskannte, würde zu viel Zeit brauchen. April musste über die Rückseite des Bergs hochsteigen und sich zu Cappelle abseilen. Er hatte das Funkgerät des Rangers bei sich und trug ein Netz als Schutz über seiner Kappe. Auf halber Strecke traf er zwei Kletterfreunde, die er in seinen Plan einweihte. Als die drei auf dem Gipfel ankamen, waren seit dem Angriff auf Cappelle rund 45 Minuten vergangen. April hatte keine Ahnung, ob sein Freund noch lebte. April befestigte sein Seil in einem Haken. Während ihn der eine Kletterfreund sicherte, stieg er ab.
Cappelle liegt unter einer Wolke aus Killerbienen
Nach 15 Metern konnte er seinen Partner endlich sehen. Cappelle lag immer noch regungslos unter einer Wolke aus Bienen. „Ian!“, brüllte er. Dieses Mal hob Cappelle seinen Kopf. Dann legte er den Kopf wieder ab. April kletterte zum Felsvorsprung hinunter. Wieder stürzten sich die Bienen auf ihn, doch er spürte sie nicht mehr. Er befestigte Ians Seil an seinem Sicherungsgerät. „Ich hole dich hier raus“, sagte er. Cappelle war so weit bei Bewusstsein, dass er den Anweisungen seines Partners folgen konnte. Vorsichtig ließ der 46-Jährige ihn die 40 Meter hinab. Unten traf gerade der erste Rettungswagen ein. April sah zu, wie die Ranger und Sanitäter Cappelle in Empfang nahmen. Dann seilte er sich selbst so schnell wie möglich ab. Als er unten ankam, war Cappelle schon im Hubschrauber auf dem Weg ins Krankenhaus in El Paso. Erst jetzt traf das Bergrettungsteam ein.
April selbst begab sich nicht ins Krankenhaus. Obwohl er sich schwach fühlte, glaubte er nicht, dass er in Lebensgefahr schwebte. Auf dem Parkplatz begegnete er zwei Kletterern, die sich mit Erste-Hilfe-Maßnahmen auskannten. April zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Denn am besten, so lautete ihr Rat, entferne man die Stacheln nicht mit einer Pinzette, weil dabei das Gift aus der Giftblase in den Körper gedrückt würde. Stattdessen schabten ihn die beiden mit ihren Kreditkarten ab, wobei Hunderte von Stacheln in den Wüstensand fielen.
Die Ärzte im Krankenhaus schätzten, dass Cappelle mehr als tausendmal gestochen worden war – genug, um ihn zu töten. Doch er hatte Glück gehabt. Nach ein bis zwei Tagen hatte sein Körper das Gift ausgespült, und er fühlte sich wieder wohl.
In den Monaten nach dem Angriff hatte Cappelle viel über diesen nachgedacht. Was wäre passiert, wenn April an jenem Tag nicht zurückgekommen wäre? Das Einzige, woran er sich erinnern konnte, nachdem er bewusstlos zusammengebrochen war, ist ein dicker Teppich aus toten Bienen, die den Felsvorsprung bedeckten, bevor er Aprils rote Schuhe sah. Als sie sich ein paar Monate später wieder trafen, wollte er ihm nun sagen, wie dankbar er war, doch sein Freund winkte ab. Für ihn hatte es keine Wahl gegeben. „Es war klar, dass er mir unter allen Umständen helfen würde“, sagt Cappelle.