Spannung

Autor: Jim Geraghty

Elch-Alarm!

Beim Wandern einem wilden Tier begegnen? Das ist unwahrscheinlich, dachten wir. Doch es kam anders.

Eine Elchkuh steht auf einer Wiese.

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©iStockphoto.com / pum_eva

Der Denali-Nationalpark im US-Bundesstaat Alaska ist Heimat Hunderter Elche, Grizzlys und Schwarzbären. Doch aufgrund der enormen Größe des Parks – rund 24 000 Quadratkilometer – ist die Wahrscheinlichkeit, einem dieser wilden Tiere zu begegnen, ziemlich gering. Für die spärliche Verbreitung sind nicht etwa die Jagd oder  Krankheiten verantwortlich, sondern schlicht der hohe Platzbedarf der Tiere. Elche und Bären benötigen große Flächen, um ausreichend Nahrung und Lebensraum zu finden. 
Es ist Sommer. Meine Frau, unsere beiden Teenager und ich machen eine  60 Kilometer lange Bustour im Denali-Nationalpark. Die Landschaft ist spektakulär – doch laut unserer Tourleiterin sollen wir uns keine Hoffnungen machen, einen Elch oder Bären zu sehen.  Vielleicht ist das auch besser so, denn unser Besuch fällt in die Zeit, in der die Tiere häufig aggressiv sind. Bären fressen gern Elchkälber. Da die Jungtiere Anfang Juni jedoch schon schnell genug sind, um ihren Fress­feinden zu entkommen, bleiben die Bären oft hungrig. Auch Elchmütter, die einen Teil ihrer Jungen verloren haben, können im Juni aggressiv sein.

Elche können aggressiv werden

Anders als Bären sind Elche zwar keine Fleischfresser, aber sie greifen alles an, was sie als Bedrohung empfinden. Wenn Sie einem Bären begegnen, können Sie sich auf mehrere Arten schützen: Machen Sie sich so groß wie möglich, machen Sie Lärm oder stellen Sie sich tot. Bei einem angriffslustigen Elch rät die Fischerei- und Wildtier­behörde von Alaska hingegen: „Laufen Sie weg und verstecken Sie sich hinter etwas Festem, etwa einem Baum.“ Unsere Reiseführerin erzählt, dass sie und ihr Hund erst vor wenigen Tagen einem riesigen Elch begegneten und sich im Gewächshaus eines Nachbarn verstecken mussten.

In Alaska gibt es dreimal so viele Elche wie Bären. Laut der Fischerei- und Wildtierbehörde werden jedes Jahr zwischen fünf und zehn Menschen durch Elche verletzt, meist bei Autounfällen. Es gibt mehr Zwischenfälle mit Elchen als Angriffe von Grizzly- und Schwarzbären zusammen. Zum Glück halten sich die meisten Menschen von Bären fern – doch bei Elchen wird die Gefahr oft unterschätzt. Durchs Busfenster sehen wir Alaska-Schneeschafe mit Hörnern und einen Steinadler. Wir erkennen jedoch nur kleine Pünktchen in der Ferne, obwohl unsere Reiseleiterin eine Kamera mit einer beachtlichen Vergrößerungslinse hat. Wir sichten auch einen Fuchs, sind aber wenig beeindruckt – in unserer Nachbarschaft in Virginia sind Füchse sehr verbreitet. Sie stehlen sogar Hotdogs von unbeaufsichtigten Hinter­hofgrills.

Meine Frau und unsere beiden Teenager wollen unbedingt den Nationalpark auf eigene Faust erkunden, also steigen wir aus dem Bus. Wir wollen auf dem Mount Healy Overlook Trail wandern. Nach einer Weile verkündet unser Jüngster, dass er mal muss, und verschwindet im Wald. Mir kommt der Gedanke, dass ich ihn besser nicht aus den Augen lassen sollte. Der Wald­boden ist weich und sumpfig, was die herannahenden Schritte eines Wildtiers dämpfen würde.  

Der Elch wirkt entspannt und neugierig. Er verfolgt uns. 

Und dann, ein paar Augenblicke später, sehe ich ihn: Ein Elch schlendert in etwa zehn Metern Entfernung auf uns zu. Es ist sehr unwahrscheinlich, hier einen Elch zu sehen, und doch steht jetzt einer vor uns. Er ist riesig, deutlich größer als ich – und ich bin mit meinen 1,90 Metern selbst nicht gerade klein. Da er kein Geweih hat, gehe ich davon aus, dass es eine Elchkuh ist. Und die könnte zu dieser Jahreszeit ja besonders gefährlich sein. Das Tier wirkt entspannt, aber ich bin kein Elch-Psychologe. Hätte unsere Führerin uns nicht vor Elchen gewarnt, wäre ich wahrscheinlich regelrecht begeistert – und nicht so beunruhigt wie ich es jetzt bin. Doch nun weiß ich, dass wir uns gerade Auge in Auge mit einem Tier befinden, vor dem selbst unsere Reiseleiterin, die auch schon mehreren Grizzlybären begegnet ist, Angst hat. 

Ich bin keineswegs entspannt. Ich habe Angst. 

Ich rufe nach meiner Familie, meine Stimme ist um eine Oktave höher als sonst. Die Erkenntnis, dass ich nicht kontrollieren kann, was als Nächstes passiert, schnürt mir die Kehle zu. Die Wahrscheinlichkeit eines Elchangriffs scheint plötzlich höher als null. Mein Sohn und ich gehen langsam zurück auf den Weg. Der Elch kommt ebenfalls aus dem Wald und steuert auf uns zu. Er scheint nicht aggressiv, ist aber eindeutig aufmerksam – und nicht im Geringsten ängstlich. Unser älterer Teenager, der vor ein paar Jahren großer Fan des Survivalexperten Bear Grylls war, weist uns an, uns langsam und leise zurückzuziehen. Leider muss ich zugeben, dass „langsam“ und „leise“ nicht gerade meine Stärken sind. 
Wir gehen ein Stück zurück, doch der Elch rückt noch ein bisschen vor. Wir erinnern uns an den Rat „Verstecken Sie sich hinter einem Baum“ und be­­wegen uns in den Wald. Die Moskitos freuen sich über frisches Blut. Wir spähen hinaus. Der Elch ist immer noch da und kommt auf uns zu. Beim Besucher­zentrum hatten uns große Schilder gewarnt: „ACHTUNG: ELCHE SIND EXTREM GEFÄHRLICH. ABSTAND HALTEN.“ Leider stand nicht dabei, was man tun soll, wenn man von einem Elch verfolgt wird.  
Wir gehen noch tiefer in den Wald hinein und stellen uns Rücken an Rücken, für den Fall, dass sich ein weiteres Tier aus einer anderen Richtung nähert. Die Stechmücken überfallen uns gierig, unsere Herzen pochen und das Adrenalin pumpt durch unsere Körper. Nach einigen Minuten verliert der Elch schließlich das Interesse und trabt davon. 

Erleichtert kehren wir zum Weg zurück und treffen auf eine Gruppe Wanderer. Aufgeregt fragen wir: „Haben Sie den Elch gesehen?“
„Welchen Elch?“
Zum Glück habe ich ein Foto gemacht – sonst würde uns das niemand glauben.