Hilfe, wir sinken!
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Eine leichte Brise bewegte das Meer, spätes Tageslicht tanzte auf den Wellen. Ein schöner Tag im Barnegat Inlet, einem Sund zwischen Sedge Island und Long Beach Island, der die Barnegat Bay mit den raueren Gewässern vor der Atlantikküste des US-Bundesstaats New Jerseys verbindet. Jarett Krause und Gosefina Gonzales taten das, was sie am liebsten machten: Sie verbrachten Zeit auf dem Wasser. Mit an Bord war ihre Tochter Ryleigh, vier, die einen Gipsverband am Bein trug. Bei jeder Gelegenheit fuhr die Familie mit dem sieben Meter langen Sportboot von Krauses Vater in die Barnegat Bay. Sie schwammen oder angelten und verbrachten gemeinsam schöne Tage. Am Abend des 7. August 2022 waren Freunde mit an Bord: Ryan Gaudet mit seiner Freundin Marisa Schwear und seiner zwölfjährigen Tochter Presley. Die beiden Mädchen gingen unter Deck, um mit ihren iPads zu spielen, während die Männer angelten und die Frauen sich unterhielten.
Gegen 19 Uhr wurde der Wind plötzlich stärker, die zuvor ruhige See rau. Gleich darauf hörten die Bootsinsassen ein lautes, knirschendes Geräusch – das Boot war auf gelaufen. Was Krause nicht wusste: Der Landesteg am nördlichen Ende des Barnegat Inlet endet nicht dort, wo die Wasserfläche beginnt, sondern setzt sich unter Wasser fort – oft nur etwa einen halben Meter unter der Oberfläche, je nach Gezeitenlage. Obwohl dieser Steg markiert ist, kollidieren häufig Boote damit.
Krause gab Gas, um die Wellcraft freizubekommen, aber stattdessen trieb das Boot weiter auf den Steg zu. Es wurde am Heck von einer Welle getroffen, die es mit kaltem Seewasser füllte. Nur einen Augenblick später schwappte eine zweite Welle über das Heck. „Runter vom Boot! Alle runter!“, riefen die Männer.
Während Krause verzweifelt weiter versuchte, das Boot freizubekommen, stürmte Gosefina Gonzales auf die Kabinenluke zu. „Raus hier, Mädels! Raus!“, schrie sie. Presley kam ihr entgegen, und Gonzales, Brille und Handy noch in einer Hand, zerrte das Mädchen an Deck. „Spring runter!“
Dann sah Gonzales Ryleigh ganz hinten in der Kabine. Ihre Tochter trug eine violette Schwimmweste und konnte sich wegen ihres eingegipsten Beins nicht schnell bewegen. Gonzales wollte gerade Ryleighs Hand ergreifen, als noch mehr Wasser hereinströmte. Das Boot stellte sich kurz fast senkrecht auf und kippte dann um.
Alle von Bord - außer Ryleigh und Gonzales
Die anderen waren alle rechtzeitig vom Boot gesprungen. Ohne Schwimmwesten trieben sie in dem selbst im August gerade mal 16 Grad kalten Wasser. Marisa Schwear wurde schon nach kurzer Zeit von der Besatzung eines anderen Sportboots aus dem Wasser gezogen. Krause hielt Presley fest und schwamm mit ihr zurück zu der gekenterten Wellcraft, die nun vom Steg wegtrieb. Die beiden konnten sich am Rumpf festhalten.
Ryan Gaudet tauchte neben dem gekenterten Boot, um nach Gonzales und Ryleigh zu suchen, aber ohne Schutzbrille konnte er nichts sehen. Er schwamm zum Landesteg und wartete auf Rettung.
Jemand – wahrscheinlich die Bootsfahrer, die Schwear aus dem Wasser gezogen hatten – rief die Küstenwache an. Die alarmierte umgehend die Rettungsschwimmer der Strandwache, die freiwillige Feuerwehr, Rettungssanitäter, die Staatspolizei und die örtliche Sea Tow Operation (ein Abschleppdienst für Boote): „Barnegat Inlet. Gekentertes Boot. Fünf Personen im Wasser. Keine Rettungswesten.“
Krause und Gaudet starrten auf den Rumpf der Wellcraft und fragten sich, ob Gosefina Gonzales und die kleine Ryleigh noch am Leben waren. Sie waren es. Bevor das Licht ausgegangen war hatte Gonzales gesehen, dass Ryleigh von im Wasser treibenden Gegenständen umgeben war. Die Mutter räumte das Zeug aus dem Weg, um ihre Tochter zu greifen und sie huckepack zu nehmen. Da das Boot kieloben lag, stand Gonzales auf der Decke der Kabine, während ihr Kopf den Boden berührte. Es gab nur eine kleine Luftblase, das kalte Wasser stand ihr fast bis zum Kinn. Ryleigh wimmerte und zitterte. „Nicht weinen“, versuchte Gonzales ihre kleine Tochter zu beruhigen. „Wir werden hier rauskommen.“ Ihr Telefon und ihre Brille hatte sie immer noch in der Hand. Gonzales drückte eine Taste und ihr nasses Telefon ging zum Glück an, also schaltete sie die Taschenlampen-App ein. Unter den Seilen, Stangen, Schwimmwesten und Kleidungsstücken leuchtete das Wasser im Abendlicht blau.
War es überhaupt möglich, durch das Durcheinander hinunterzutauchen, tief genug zu kommen, um die Tür der Kabine zu finden, hindurchzuschwimmen und es dann an die Oberfläche zu schaffen? Aber welche Wahl hatten sie denn? Das Boot bewegte sich, driftete vom Steg weg – das konnte Gonzales spüren. Was, wenn es sich so weit bewegte, dass sich auch dieser letzte kleine Raum mit Wasser füllte und das Boot sie beide in die Tiefe zog?
„Hör zu, Mami wird jetzt versuchen, unterzutauchen“, sagte sie zu Ryleigh. „Halt dir die Nase zu.“
Sie tauchte, strampelte mit Beinen und Armen, kam aber nicht weit, da sie durch den Auftrieb von Ryleighs Schwimmweste wieder nach oben gedrückt wurde. Sich selbst zu retten konnte also nicht funktionieren – und auf keinen Fall würde sie Ryleigh die Schwimmweste abnehmen. „Wir werden jetzt Daddy anrufen“, teilte Gonzales ihrer Tochter mit.
Kontakt per Telefon
Jarett Krause klammerte sich noch immer an den Rumpf der Wellcraft, als sein Mobiltelefon klingelte. „Geht es dir gut?“, fragte er „ Geht es Ryleigh gut?“ Sie versicherte ihm, dass es ihnen im Moment gut gehe. Aber würde ihnen jemand helfen? „Die Küstenwache ist hier“, antwortete Krause. „Ich gehe jetzt auf ihr Boot. Sie werden euch rausholen.“
Die Station Barnegat Light der Küstenwache entsandte ein Schiff mit einer vierköpfigen Besatzung, die Gaudet, Presley, Schwear und Krause aufnahm. Mehrere Fahrzeuge waren nun vor Ort: zwei Schlepper, ein Boot der Staatspolizei sowie ein Jetski mit einer schwimmfähigen Trage. Gelenkt wurde dieser von den Feuerwehrleuten Andrew Baxter und Hugh Shields. An Bord des Schiffes der Küstenwache teilte Krause der Besatzung mit, dass sich seine Frau mit ihrer
vierjährigen Tochter, deren Bein eingegipst war, unter dem gekenterten Boot befand. Und sie hielten Kontakt per Telefon.
Die Besatzung funkte diese neuen Informationen an Land. Der befehlshabende Offizier der Küstenwache, Adam Murray, erschrak. In 23 Jahren hatte er schon mehrere Notrufe erhalten, bei denen Menschen unter gekenterten Booten gefangen waren. Niemand hatte es lebend herausgeschafft.
Für Menschen, die sich in dieser Situation befinden, sind Sauerstoffmangel und Unterkühlung ernsthafte Risiken, aber nicht die einzigen. Unter einem gekenterten Boot zu stecken, ist wie eine tickende Zeitbombe: Eine Welle oder eine Erschütterung können dazu führen, dass sich das Boot komplett mit Wasser füllt und es sinkt. Unter einem gekenterten Boot ist es so gefährlich, dass es den Ersthelfern – selbst den Experten der Küstenwache – nicht erlaubt ist, in ein Schiff in dieser Lage zu tauchen. Zu viele sind bei solchen Versuchen bereits ums Leben gekommen, weil sie die Orientierung verloren oder sich verhedderten.
Der Feuerwehrmann Bob Selfridge war der Letzte, der an der Bootsrampe ankam. Der 58-Jährige war der älteste Rettungsschwimmer am Strand und in der Gemeinde eine Legende. Als Selfridge an der Bootsrampe ankam, war Lee Major, der Leiter der Rettungsorganisation Ocean Rescue, gerade dabei, den zweiten Jetski des Teams bereit zu machen. Selfridge, wie immer barfuß, sprang auf, und die beiden fuhren los.
In dem gekenterten Boot wiederholte Gonzales ihre Beteuerung gegenüber Ryleigh, dass sie es schaffen würden. Vielleicht beruhigte sie sich damit nur selbst, denn das Mädchen blieb erstaunlich ruhig auf dem Rücken ihrer Mutter. Wie viel Zeit war vergangen? Fünf Minuten? Zehn? Gonzales spürte die Kälte kaum noch. Alles, woran sie denken konnte, war, wie sie sich befreien könnte. Sollte sie noch einmal versuchen unterzutauchen?
Ein riskantes Manöver, um das Boot zu drehen
Auf dem Schiff der Küstenwache stellte Krause sein Telefon auf Lautsprecher. Zusammen mit einem Retter erklärte er seiner Frau, dass sie versuchen würden, das Boot mit einem riskanten Manöver namens Parbuckling aufzurichten. Wenn es klappte, würde das Boot sich wieder aufrichten. Wenn dies jedoch nicht gelang, könnte sich die Luftblase mit Wasser füllen. Die Retter banden ein Seil an einer Seite des gekenterten Boots fest, zogen es unter Wasser zur anderen Seite durch, dann über den Rumpf und zurück zum etwa sechs Meter entfernten Schleppboot. Dieses fuhr langsam an – und der Bug der Wellcraft drehte sich, wie der Zeiger einer Uhr, in Richtung des Schleppers.
Gonzales spürte, wie sich die Wasserlinie unter ihrem Kinn bewegte und leicht anstieg, das Luftloch schrumpfte. Sie hob ihren Kopf höher.
„Es hat nicht geklappt“, teilte Krause ihr per Telefon mit. „Aber die Küstenwache schickt Taucher.“
Der Hubschrauber brachte die Männer aus Virginia Beach, das mehr als eine Stunde entfernt lag. Normalerweise retteten die Taucher keine Menschen aus gekenterten Booten, sondern bargen deren Leichen. Gonzales schaltete die Taschenlampe aus, um die Batterie zu schonen. Unter ihren Füßen schwankte das schwindende Tageslicht im blauen Ozean. Sie war sich sicher, dass das Luftloch weiter geschrumpft war.
Bob startet zur Rettung
Bob Selfridge wurde unruhig. „Wir müssen da runter“, sagte er zu Major. Dessen Gedanken rasten. Retter haben gern einen Plan, einen Reserveplan und dann noch einen Reserve-Backup-Plan. Wie würde das funktionieren? „Ich werde sie jetzt einfach holen“, verkündete Selfridge, bevor Major etwas vorschlagen konnte. Er zog seine Flossen an und schnappte sich eine Taucherbrille von Sea-Tow-Kapitän Walt Bohn.
Das kann schiefgehen, dachte Bohn. Alle dachten das, auch Selfridge selbst. Doch er holte ein paar Mal tief Luft, ließ sich unter die Wellcraft sinken und blickte dann nach oben. Das gekenterte Boot leuchtete in einem seltsamen Grün über ihm.
Das Steuerrad lag auf der linken Seite, der Kabineneingang oben statt unten. Keine Spur von Frau oder Kind, aber als er ausatmete, stiegen seine Luftblasen zur dunklen Öffnung der Kabinentür empor. Selfridge folgte ihnen und schlüpfte durch. Der Retter schob Trümmer beiseite, ertastete einen menschlichen Körper und fühlte dann Luft an seinen Händen. Selfridge tauchte auf und atmete aus. In der Dunkelheit konnte er die Frau neben sich nur spüren.
„Hallo, ich bin Bob, und ich bin euer Rettungsschwimmer“, sagte er ruhig.
Es hatte keine Absprache gegeben, aber jeder der Retter hatte eine Vorstellung davon, was er tun würde, sobald zu viel Zeit verstrichen war seit Selfridge abgetaucht war. Hugh Shields und Lee Major planten, ihm hinterher zu tauchen und wenigstens ihn zu retten. Bob war ihr Freund, ein Mitglied der großen Retterfamilie.
„Helfen Sie meiner Tochter“, bat Gonzales. Selfridge hatte das Kind noch nicht gesehen. Dann schaltete Gonzales ihr Telefon ein, und das kleine Mädchen wurde sichtbar – wimmernd, an seine Mutter geschmiegt.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann.
„Ryleigh.“
„Weißt du, wie man die Luft anhält, Ryleigh?“
„Du hast es im Schwimmunterricht gelernt“, sprach Gonzales ihrer Tochter Mut zu.
„Ich komme gleich wieder zu Ihnen“, versprach Selfridge der Mutter.
Er ergriff Ryleighs Schwimmweste, legte seine andere Hand auf ihren Kopf, um sie vor den Trümmern zu schützen und zog sie mit sich in die Tiefe.
Gonzales hatte nicht die Absicht, darauf zu warten, dass der Retter wiederkam. Sie tauchte ihm hinterher.
Dank Taucherbrille konnte Selfridge die im Wasser treibenden Kabel und andere Gegenstände sehen und ihnen ausweichen. Doch Gonzales sah nichts und hatte keine Ahnung, welche Hindernisse vor ihr lagen. Sie wusste nicht, wie tief sie tauchen oder in welche Richtung sie schwimmen sollte. Aber die Frau schaffte es, aus der Kabine zu gelangen. Es kostete sie wertvolle Sekunden, verschiedenen Hindernissen auszuweichen. Schließlich tauchte Gonzales mit brennenden Lungen vom Boot weg und sah über sich die helle Wasseroberfläche. Sie strampelte, bis es sich anfühlte, als ob ihre Lungen nicht mehr durchhalten würden.
Und dann, endlich, war sie draußen. Gierig saugte sie die Luft ein. Jemand half Gonzales, zum Boot der Küstenwache zu schwimmen. Nachdem sie an Bord gegangen war, umarmte sie ihre Tochter fest.
Selfridge legte sich an Deck hin. „Geht es dir gut?“, fragte ihn Andrew Baxter besorgt. „Ja, ja“, antwortete Selfridge und setzte sich auf.
Erleichtert lachte Baxter. „Sieh dir dein T-Shirt an, Bob.“
Selfridge blickte nach unten. Er hatte ganz vergessen, welches T-Shirt er an diesem Morgen angezogen hatte – das mit dem Superman-Logo auf der Brust.





