Spannung

Autor: Emily und Per Ola D’Aulaire

Ich bleibe bei dir

Larry Shannon ist 82 Jahre alt, seine Frau Emma 80. Ein Schneesturm verschüttet ihr Wohn­mobil – und niemand weiß, wo sie sind.

Ein Wohnmobil fährt vor verschneiter Berglandschaft im Schnee über eine Straße.

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©iStockphoto.com / GKV

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Es war ein sonniger Februarmorgen in Südkalifornien, USA, und Larry und Emma Shannon fühlten sich blendend. Seit fast vier Monaten waren sie in ihrem sieben Meter langen Wohnmobil unterwegs, hatten ihre Tochter in Florida besucht und befanden sich jetzt auf dem Weg nach Modesto, wo Patti, eine andere Tochter, sie erwartete. Dort wollten sie ein paar Monate bleiben, bevor sie nach Grand Rapids im US-Bundesstaat Michigan zurückfuhren. 
Larry hatte am Vortag seinen 82. Geburtstag gefeiert. Das Paar war seit 52 Jahren verheiratet. Nachdem das letzte ihrer sechs Kinder ausgezogen war, hatte Larry seine Arbeit als Schweißer aufgegeben, und das Ehepaar begann zu reisen. Doch dann verschlechterte sich Emmas Gesund­heitszustand und Larry konzentrierte sich darauf, sie zu umsorgen. 

Eines Tages im Jahr 1974 sprach Larry ein ernstes Wort mit seiner Frau. „Emma“, sagte er, „wir werden nicht hier herumsitzen und abwarten, wer von uns als Erstes auf den Friedhof kommt. Wir kaufen uns ein Wohnmobil und sehen uns mal richtig im Land um.“ Larry Shannon, ein rüstiger, drahti­ger Ire mit blauen Augen und schneeweißen Haaren, war nicht so leicht von etwas abzubringen, wenn er es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. „Wir mei­den die Autobahnen und fahren über Land­straßen“, erklärte er. „So bekommen wir mehr zu sehen.“ 
Sie fuhren durch die südlichen Ausläufer der Sierra Nevada nach Norden. Larry hielt an und sah auf der Straßenkarte nach. „Wir nehmen die­sen Weg“, entschied er und zeigte auf eine dünne blaue Linie, die sich durch die Berge wand und im fruchtbaren San-Joaquin-Tal endete. Die Straße, die er ausgesucht hatte, führte erst an einem tosenden Fluss entlang, stieg dann steil nach Westen an und überquerte schließlich einen 1950 Meter hohen Pass. 
Gegen Mittag begann Larry, sich Sorgen zu machen. Es fing an zu schneien, und an dieser schmalen Bergstraße konnte er das Wohnmobil nicht wen­den. „Die nächste Ortschaft müsste gleich am Ende der Straße kommen“, meinte er. „Dort warten wir, bis das Unwetter vorbei ist.“ Larry wusste allerdings nicht, dass sie sich auf der falschen Straße befanden. Er hatte den richtigen Abzweig verpasst und war auf einen Forstweg geraten, der an einem ver­lassenen Ferienlager endete. 

Das Wohnmobil bleibt stecken. Nichts geht mehr.

Es war 13 Uhr, als das Wohnmobil stec­ken blieb. Larry hatte vor einer engen Kurve abgebremst, und die Hinterräder waren durch eine Schneekruste gebro­chen. Einge­mummt in zwei Jacken stieg Larry aus, um sich die Bescherung anzusehen. Links ragte eine Felswand 750 Meter empor, rechts ging es steil hinunter in eine 300 Meter tiefe Schlucht. Das Paar hatte weder Schaufel noch Schneeketten dabei. Larry mühte sich zwei Stunden lang vergeblich, mit einer Bratpfanne die Hinterräder freizuschaufeln. „Morgen bringe ich uns hier raus“, versprach er. Es war Dienstag, der 7. Februar 1978.
Um zwei Uhr hörten die Shannons ein Grollen; das Wohn­mobil wackelte, und ihr Pudel Andy begann zu bellen. Am Morgen sahen sie, dass eine Steinlawine herabgestürzt war und die Straße vor ihnen verschüttet hatte. Es hatte zu schneien aufgehört. Larry schaltete das Funkgerät ein, aber niemand erwiderte seine Hilferufe. Um 14 Uhr machte der 82-Jährige sich wieder daran, das Wohnmobil freizuschaufeln. Mit einem Montiereisen schlug Larry das Eis um die Räder herum weg, dann ließ er den Motor an und bekam das Auto tatsächlich frei. Doch kaum hatte es sich in Bewegung gesetzt, gab es ein lautes Knacken: Die Antriebswelle war gebrochen. 
„Nun“, sagte er so gelassen wie möglich zu Emma, „dann werden wir eben hier aushalten müssen, bis uns einer holen kommt.“ Um fünf Uhr begann es wieder zu schneien. Es schneite den ganzen Donnerstag. 
Larry toastete ihr gesamtes Brot auf dem Gaskocher, damit es nicht ver­schimmelte, dann machte er eine Bestandsaufnahme von den Vorräten: „Zu essen haben wir genug.“ Sie spielten Karten, sprachen über die Vergangenheit – und versuchten, nicht an die Zukunft zu denken. Am folgenden Nachmittag gegen 16 Uhr wollte Larry seiner Frau von ihrem Sitz hochhelfen, doch sie sackte plötzlich zusammen. Er hielt das für einen ihrer Ohnmachtsanfälle, aber als er sich über sie beugte, wurde ihm plötzlich selbst schwindlig – die Höhenkrankheit. Er schaffte es gerade noch bis zur Schlafkoje, bevor er das Bewusstsein verlor. Als er auf­wachte, war es dunkel. Er tastete nach dem Licht und sah Emma schwer atmend auf dem Boden liegen. Zu schwach, um sie aufzuheben, schob er ihr ein Kissen unter den Kopf und legte eine Decke über sie. Dann fiel er wieder in seine Koje. 

Emma ist gestorben

Gegen drei Uhr morgens wurde Larry von Andys Win­seln geweckt. Er ging zu Emma. Sie atmete nicht. Er griff nach ihrer Hand. Sie war kalt. Kein Puls zu fühlen. Emma war tot. Wie betäubt kniete Larry nieder und betete. „Wenn sie uns nächstes Frühjahr finden“, dachte er, finden sie mich wahrscheinlich neben ihr. Wir sind zusammen durchs Leben gegangen – dann wollen wir es auch zusammen be­enden.“ Am Morgen aber erwachte Larrys Lebenswille wieder: Er schwor sich, bis zuletzt an Emmas Seite zu bleiben, statt ihren Leichnam draußen in den Schnee zu legen. Er hüllte seine Frau in Decken und stellte die Heizung ab.  

Als ihre Eltern am Wochenende noch nicht da waren, sorgte Patti sich allmählich. Schlechtes Wetter in ganz Südkalifornien hatte einige Erd­rutsche ausgelöst. War das Wohnmobil womöglich erfasst worden? Die Polizei versicherte ihr, dass kein grün-weißes Wohnmobil entdeckt worden war.  
Larry sah den Schnee immer höher werden, bis er fast zwei Meter hoch lag. Mehrmals am Tag drückte er die Tür auf und schaufelte den Schnee davor weg. In einem Kalender hakte er die Tage ab, führte Buch über Innen- und Außen­temperaturen und hielt seine Gedan­ken in einem Notizbuch fest. Im Wagen sank die Temperatur nachts auf sieben Grad unter Null. 
Am ersten Sonntag klarte es kurz auf, und Larry sah fünf Rehe aus der Schlucht hochklettern. Dann fing es wieder an zu schneien und hörte erst am 14. Fe­bruar wieder auf. Er erwachte an diesem Morgen voller Hoffnung. Die Sonne schien, und er schaufelte einen Weg um das Wohnmobil herum und räumte den Schnee vom Dach, damit es aus der Luft besser zu sehen war. 
Er hörte einen Düsenjäger über sich und stürzte in den Wagen, um eine Notsignalpatrone zu holen. Aber da war das Flugzeug schon fort. Den ganzen übrigen Tag lang versuchte Larry sich über Funk bemerkbar zu ma­chen – ohne Erfolg. „Kein schönes Ende nach 82 Jahren“, dachte er. Dennoch bekam Larrys Lebens­wille irgendwie wieder die Oberhand. Um Trinkwasser zu gewin­nen, schmolz er Schnee auf dem Pro­pangaskocher, und er zwang sich, zwei Mahlzeiten am Tag zu essen, um bei Kräften zu bleiben. Ein paar Tage bevor sie steckengeblieben waren, hatten er und Emma ihre Vorräte an Zitrusfrüchten aufgefüllt. Jetzt aß Larry jeden Morgen eine halbe Grape­fruit mit einem Stück Toastbrot. 
In Modesto verstärkten Patti und ihr Mann George ihre Nachfor­schungen. Als sie die Luftraumüberwachung anriefen, erfuhren sie, dass bereits eine Suche aus der Luft durchgeführt worden war, aber kein Fahrzeug wie das der Shan­nons war gesichtet worden. 

Noch immer keine Rettung in Sicht

Für Larry Shannon sah es inzwi­schen böse aus, fünf Tage lang goss es wie aus Kübeln. Am 7. März, dem 29. Tag, klarte das Wetter auf, und ein Düsenjäger der Air Force jagte im Tiefflug durch die Schlucht. Dreimal kam er vorbei, machte einen Bogen und donnerte die Schlucht hinauf – und Larry glaubte aus dem Cockpit ein Licht­signal zu sehen. 
Er war so aufgeregt, dass er in dieser Nacht kein Auge zutat. Zum ersten Mal seit Emmas Tod schaltete Larry die Innenbeleuchtung ein, rasierte sich und packte eine Tasche. Aber am folgenden Tag geschah nichts. „Es ist hart, sich Hoffnungen zu machen und dann enttäuscht zu wer­den“, notierte er. 
Am Morgen des 10. März hatte Larry gerade den 32. Tag in seinem Kalender abgehakt, als ein ohrenbe­täubender Lärm ihn aus dem Auto springen ließ, gerade rechtzeitig, um den Heckrotor eines Hubschraubers hinter dem Berg verschwinden zu sehen. Die drei Männer an Bord waren auf einem Kontroll­flug zum Ferienlager am Ende des Forstwegs. Als sie wieder zurückflogen, entdeckten sie einen weißhaarigen Mann, der ihnen zuwinkte. 
Mit einem Abstand von nicht ein­mal zwei Metern zwischen Rotor und Felswand landete Pilot Bob Wasik den Hubschrauber. Die Männer wateten durch den nas­sen Schnee zu Larry. John Bethell, der ihn als Erster erreichte, umarmte den 82-Jährigen. „Sie schickt der Himmel“, sagte Larry Shannon mit schwacher Stimme. Und zum ersten Mal seit Beginn seines 32-tägigen Martyriums weinte er. 

Wenige Tage nach Larrys Rettung wurde Emma Shannon in Modesto beerdigt. Am Ostersonntag kehrte der Witwer, be­gleitet von einem Enkel und dessen Freund, zum Wohnmobil zurück, um es zu reparieren. Obwohl er mehr als sieben Kilogramm abgenommen hatte, war Larry bei bester Gesundheit. Seine Freude am Leben war ungebrochen, und schon bald verkündete er, dass er das Wohnmobil nach Grand Rapids heimfahren wolle. Bob McAdams, der ebenfalls zur Hub­schrauberbesatzung gehörte, fasste zusammen: „Larry Shannon ist ein Beispiel für den unbezwingbaren Lebensmut des Menschen. Er wollte einfach nicht aufgeben.“ „Und Mutter hat mit dazu beige­tragen“, ergänzte Patti. „Sie hat sogar noch im Tod auf ihn achtgegeben. Sie hat ihm das Leben gerettet, weil er sie nicht allein zurücklassen wollte.“