Odyssee über den Wolken
Die Stromversorgung an Bord ist ausgefallen. Jetzt hat der Pilot nur noch eine Chance: Ein anderes Flugzeug muss ihn lotsen.
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Der Himmel über dem General-Mitchell-Flughafen von Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin war grau und wolkenverhangen, als John Fanselow die Startfreigabe erhielt. Der 30-jährige Pilot wollte eine einmotorige Piper Cherokee zu ihrem Heimatflughafen Janesville knapp 100 Kilometer südwestlich überführen, wo er als Fluglehrer arbeitete. Der schmächtige Brillenträger schob den Gashebel nach vorn. Die weiße Maschine gewann an Geschwindigkeit und schwebte nach einem problemlosen Start den Wolken entgegen. Es war der 16. Januar 1995, 19 Uhr. „Steige auf 4000 Fuß (1200 Meter), Kurs eins-neun-null, Flughöhe 1300 Fuß“, meldete er der Flugverkehrskontrolle in Milwaukee über Funk. „Radarkontakt“, lautete die Antwort. „Fliegen Sie direkt nach Janesville.“ Reine Routine, dachte Fanselow. Die Wolkenobergrenze lag bei nur 250 Metern, was ihn jedoch nicht weiter kümmerte. Nach elf Berufsjahren konnte er sich mühelos mithilfe der Instrumente orientieren.
Zehn Minuten nach dem Start hatte Fanselow 4000 Fuß Höhe erreicht und überprüfte die Anzeigen auf den Instrumenten. Plötzlich fiel der Zeiger des Amperemeters auf null. Sein Herz raste, während er vergeblich den Schalter betätigte. Der Stromgenerator war ausgefallen! Anders als beim Auto wird der Flugzeugmotor unabhängig vom Stromgenerator angetrieben. Beleuchtung, Funkgeräte und sonstige elektronische Anzeigen werden aber wie bei einem Kraftfahrzeug von Generator und Batterie gespeist. Ohne Generator würde sich die Batterie langsam entladen und dadurch die Instrumente lahmlegen.
Fanselow konnte zwar nach Milwaukee zurückkehren, doch nach seiner Einschätzung lag kein echter Notfall vor. Wenn er den Stromverbrauch drosselte, war noch mindestens für eine Stunde Strom aus den Batterien vorhanden, und Janesville lag noch nicht einmal eine halbe Stunde entfernt.
Soll ich damit die viel beschäftigten Lotsen in Milwaukee behelligen?, fragte sich der Pilot.
Über Funk verständigte er die Flugverkehrskontrolle: „Hier Eins-fünf-eins-Delta-Sierra. Mein Generator ist ausgefallen. Fliege mit Batteriebetrieb weiter nach Janesville.“ „Verstanden“, kam die Antwort. „Halten Sie uns auf dem Laufenden.“
Fanselow rief sich eine der wichtigsten Ausbildungsregeln ins Gedächtnis: In kritischen Situationen immer kühlen Kopf bewahren und überlegt handeln. Um die Batterie zu schonen, schaltete er die Beleuchtung im Cockpit und die Außenlichter ab. Ebenso verfuhr der Fluglehrer mit zweien der drei Navigationsgeräte und einem der beiden Funkgeräte.
Das Flugzeug verschwindet vom Radar
Im Radarraum des Kontrollturms in Milwaukee hörte der Schichtleiter Don Gunderson, 41, die Ausfallmeldung des Piloten. Er blickte auf seinen Kontrollschirm und das Radarecho des Flugzeugs. Die Zahlenangaben neben dem sich bewegenden Symbol – Flugnummer, Flughöhe und Geschwindigkeit – wurden von einem Sender im Flugzeug übermittelt. Plötzlich verschwanden die Zahlenangaben vom Schirm.
Im Flugzeug von John Franselow flackerten zur selben Zeit die Displays Instrumente flackerten kurz auf und erloschen dann. Die gesamte Bordstromversorgung ist ausgefallen, dachte Fanselow. Die Batterie hatte sich unerwartet rasch geleert, und seine Funkgeräte und elektronischen Navigationshilfen waren jetzt nutzlos. Ruhe bewahren, befahl sich der Fluglehrer. Die Flugverkehrskontrolle hat mich auf dem Schirm. Irgendwie werden sie andere Flugzeuge schon fernhalten. Er konnte seine Position manuell bestimmen und traute sich zu, auch ohne elektronische Instrumente kontrolliert zu sinken und den Flughafen im Sichtflug anzusteuern, sobald er unterhalb der Wolkendecke war. Um 19.30 Uhr wollte er über Janesville sein, das er durch die Wolken hindurch an seinem Lichterschein erkennen würde.
Seine Hauptsorge galt dem Motor. Von den drei Kreiselinstrumenten, die ihm anzeigten, wo oben und wo unten ist, war der elektrische Kreisel ausgefallen. Die beiden anderen wurden über den Motor betrieben. Wenn der ausfiel, während er sich in den Wolken befand, würde er unmöglich oben und unten bestimmen können. Dann würde er abstürzen.
Unter den vielen Echos auf dem Radarschirm war das Kleinflugzeug nur noch ein x-beliebiger Punkt. Gunderson hatte jetzt keine Angaben mehr über die Flughöhe oder die Geschwindigkeit, und es gab auch keinen Funkkontakt mehr zum Piloten der Cherokee. Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste ein Flugzeug finden, das die Cherokee durch die Wolken lotste. Das Problem war nur, dass die Vorschriften der US-Luftfahrtbehörde keine Formationsflüge ohne die Zustimmung beider Piloten erlaubten.
Gunderson starrte gebannt auf den Radarschirm. Dabei musste er an ein Erlebnis im Jahr 1974 denken, als er auf einem Marinefliegerhorst auf den Philippinen Dienst getan hatte. Die beiden Besatzungsmitglieder einer F-14 hatten sich mit dem Schleudersitz über dem Südchinesischen Meer aus ihrem brennenden Flugzeug katapultiert. Der Rettungshubschrauber hatte nur einen Piloten bergen können. Um die Suche fortzusetzen, hätte der Hubschrauber aufgetankt werden müssen, was allerdings zu viel Zeit gekostet hätte.
Gunderson setzte entgegegen der Vorschriften einen Helikopter ein, der nicht für nächtliche Suchaktionen ausgerüstet war – und das zweite Besatzungsmitglied der verunglückten Maschine wurde ebenfalls gerettet. Ich muss ihn einfach sicher herunterbekommen, sagte er sich jetzt. Wenn etwas schiefging, konnte ihn das seinen Arbeitsplatz kosten. Aber er wollte nicht zusehen, wie das Radarecho vom Schirm verschwand, und dann in der Zeitung vom Absturz eines Flugzeugs lesen. Er hielt Ausschau nach einer anderen Maschine in dem Bereich.
Wie kann die Cherokee-Maschine sicher landen?
In der Cherokee stellte Fanselow ein paar Berechnungen an. Es war 19.30 Uhr, aber Janesville konnte nicht vor ihm liegen, dafür gab es nicht genug Lichter. Dann wurde ihm klar: Was er für die Lichter von Rockford, südlich von Janesville, gehalten hatte, war in Wirklichkeit Chicago mit seinen vielen Hochhäusern. Er hatte zu weit nach Süden gedreht. Was mache ich jetzt? Einen Augenblick später wusste er es: Ich nehme Kurs auf den Michigansee. Das dunkle Wasser müsste sich gut gegen die Uferbeleuchtung abheben. Über dem See würde er Milwaukee durch Kompasspeilung und anhand der vielen hellen Lichter ausmachen können. Um einen Zusammenstoß mit anderen Maschinen zu vermeiden, wollte der Pilot unter die Wolkenuntergrenze gehen und den Flughafen von Milwaukee im Sichtflug ansteuern. Fanselow fragte sich, was die Lotsen in Milwaukee dachten. Er konnte nur hoffen, dass sie seinen Plan errieten.
Gunderson sah, wie das winzige Radarecho eine Kehrtwende in Richtung Milwaukee machte und sich dann im Zickzackkurs über den See bewegte. So hatte ich es mir vorgestellt, dachte er. „Start- und Landebetrieb einstellen“, befahl er. „Wir haben einen Notfall.“ Die gesamte Flughafenbefeuerung wurde eingeschaltet. Auf einem der Radarschirme sah Gunderson eine Turboprop-Maschine vom Typ Cessna 208 Caravan. Unter der Bezeichnung Iron-Air-60 beförderte sie Frachtgut nach Milwaukee.
„Iron-Air-60‘‘, meldete sich Gunderson über Sprechfunk, „ich habe eine ungewöhnliche Bitte. Da oben über den Wolken fliegt eine Maschine mit totalem Stromausfall. Würden Sie uns bei der Suche nach ihr helfen?“
Am Steuer saß der 40-jährige Brian Barton, der über 10.000 Flugstunden hinter sich hatte. „Ja“, antwortete er knapp. „Haltet uns nur weit genug auseinander.“ Barton schaltete sämtliche Außenlichter ein: Positionslichter an den Tragflächen, das Kollisionswarnlicht am Leitwerk sowie die Lande- und Rollscheinwerfer. Er musste sich jetzt darauf verlassen, dass der Fluglotse über Kursanweisungen für ausreichenden Abstand der Maschinen sorgte. Es würde jedoch nicht schaden, wenn er selbst gut gesehen wurde.
Formations-Blindflug in den Wolken
Fanselow sah eine einmotorige Maschine keine 400 Meter vor sich durch die Wolkendecke stoßen. Die Maschine gab mehrmals Signale mit den Landescheinwerfern, legte sich scharf in die Kurve und setzte sich vor ihn. Er will mir sagen, dass ich ihm folgen soll, dachte der Pilot. Für Gunderson war es das erste Mal, dass er versuchte, zwei Flugzeuge in einen Formationsblindanflug zu bekommen. „Iron-Air-60, drehen Sie links, Kurs eins-zwo-null, halten Sie 4000 Fuß“, wies Gunderson die Cessna an. „Er ist jetzt links von Ihnen, in Neun-Uhr-Position 800 Meter entfernt mit Südkurs. Fliegen Sie Nordkurs und sehen Sie, ob er Ihnen folgt!“ Die Cessna schwenkte plötzlich nordwärts und ließ dabei die Landescheinwerfer aufleuchten. Gut, dachte Fanselow erleichtert, jetzt spielen alle nach der gleichen Partitur.
Nachdem Gunderson die Cessna angewiesen hatte, die Geschwindigkeit auf 170 km/h zu vermindern, konnte Fanselow seine Flugbewegungen anpassen. Beim Formationsflug fliegt man normalerweise seitlich versetzt, er flog jedoch direkt hinter der Cessna her. Fanselow wollte damit der Flugkontrolle deutlich machen, dass er dem Führungsflugzeug folgen würde. Auf dem Schirm konnte Gunderson verfolgen, dass das andere Radarecho sämtliche Flugbewegungen der Cessna mitmachte. „Er folgt Ihnen“, bestätigte er erleichtert. „Sie haben Freigabe für Instrumentenlandeanflug auf Start-und Landebahn 19 rechts.“
Zehn Kilometer vor dem Flughafen leitete das Lotsenflugzeug den Sinkflug entlang des elektronischen Gleitwegs ein. Gunderson ordnete die maximale Befeuerung von Start- und Landebahn 19 an. In den Wolken verlor Fanselow rasch die Sicht auf die vorausfliegende Maschine. Jetzt musste er Geschwindigkeit, Sinkrate und Kursrichtung genau beibehalten. Das ist wie bei dichtem Nebel mit 160 km/h über die Autobahn zu rasen und keine Ahnung zu haben, wann der nächste Lkw vor dir auftaucht, dachte er.
Barton achtete darauf, keine abrupten Richtungsänderungen vorzunehmen. Dennoch war ihm nicht wohl. Er hielt nach allen Seiten Ausschau nach der Cherokee, aber wohin er auch sah, überall hingen dunkle Wolken. Im Kontrollturm beobachtete Gunderson, wie die beiden Radarpunkte miteinander verschmolzen.Wahrscheinlich sind sie nur noch 30 Meter auseinander, dachte er. Die Lotsen richteten ihre Ferngläser auf die Stelle, wo die Flugzeuge auftauchen mussten. Nach einer schier endlosen Wartezeit kam die Cessna aus den Wolken.
„Gut gemacht, Iron-Air-60“, ertönte Gundersons Stimme.
Beim Verlassen der Wolkendecke bot sich Fanselow einer der schönsten Anblicke seines Lebens: Vor ihm erstreckte sich die hell erleuchtete Landebahn in ihrer ganzen Länge. Wenige Augenblicke später, genau um 20.30 Uhr, setzte die Cherokee auf und wurde von einem Rettungsfahrzeug zu der Flugzeughalle geleitet, die die Maschine gerade eineinhalb Stunden zuvor verlassen hatte. John Fanselow war diese Zeit wie eine halbe Ewigkeit erschienen.






