Spannung

Autor: Helen Signy

Rettung für Matilda

Eine junge Frau steckt kopfüber in einer Felsspalte. können die Retter sie befreien? 

Wanderweg in einem Eukalyptuswald in New South Wales, Ausralien.

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©iStockphotot.com / Wirestock

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Der 12. Oktober 2024 begann sonnig in Laguna, einem Dorf etwa 100 Kilometer nördlich von Sydney, Australien. Matilda Campbell startete mit einer Freundin zu einem Spaziergang hinter dem Ferienhaus, in dem sie mit anderen das Wochenende verbrachten. Die beiden kletterten eine Böschung hinauf, zwischen hohen Eukalyptusbäumen und über Felsen, bis sie einen Vorsprung erreichten, von dem aus sie die Landschaft überblicken konnten. Um den Anblick festzuhalten, zückte Matilda, 23, ihr Handy. Doch während sie Fotos machte, rutschte ihr das Gerät aus der Hand und fiel in eine Spalte zwischen zwei Felsbrocken. Die junge Frau griff danach, aber sie konnte es nicht ertasten. Als sie ihren Arm tiefer in die enge Felsspalte streckte, verlor Campbell das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den Spalt. 
Zwischen den massiven Felsen eingeklemmt war sie unfähig, sich zu bewegen. Ihr Kopf befand sich etwa drei Meter tief, der Oberkörper war verdreht und abgewinkelt. Beim Sturz war ihr rechter Arm hinter ihrem Rücken eingeklemmt worden und die linke Hand steckte zwischen Kopf und Felsen fest. Ihre Beine zeigten nach oben.Matilda Campbell konnte im Dunkeln ein paar Spinnen sehen und hoffte, dass sich in der Spalte keine Schlangen befanden. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. 

Nur die Fußsohlen von Matilda sind sichtbar

Von oben konnte ihre Begleiterin nur Campbells Fußsohlen sehen. Die junge Frau steckte zu tief in der Spalte, ihre Freundin konnte sie unmöglich herausziehen. Da es an der Stelle keinen Telefonempfang gab, rannte sie die Böschung hinunter und die Straße entlang, bis endlich ein Strich auf dem Display erschien. Sie wählte 000, die australische Notrufnummer.

Etwa eine halbe Autostunde entfernt, in der Stadt Cessnock im australischen Bundesstaat New South Wales, summte der Pager von Jason Sattler. Der Vorsitzende des Cessnock District Rescue Squad, der zur Rettungsorganisation VRA Rescue NSW gehört, hilft seit fast 20 Jahren Menschen in Not. 
Früher waren es vor allem Arbeiter, die sich in den Kohlebergwerken in der Region verletzten. Heute kümmern sich die Retter meist um Menschen, die bei Autounfällen verletzt werden. Sattler rief die Leitstelle an. „Bei Laguna ist jemand zwischen zwei Felsen eingeklemmt“, informierte ihn der Kollege. Der erfahrene Retter nahm an, dass jemand oberirdisch zwischen Felsen eingeklemmt war. Wie schwer konnte es sein, die Person zu bergen? Schnell fuhr er zum Stützpunkt der Gruppe in Cessnock. Dort traf er die Rettungs­veteranen Paul Hampton und Vicki West, die ebenfalls per Pager alarmiert worden waren. Sie luden ihre Ausrüstung in den Transporter und fuhren los.
Freiwillige Helfer des Laguna Rural Fire Service (RFS) waren bereits eingetroffen. Ein Löschfahrzeug sowie Polizei- und Krankenwagen kamen gerade am Unfallort an, als Sattler und seine Kollegen aus ihrem Transporter ausstiegen. Insgesamt hatten sich mehr als 30 Rettungskräfte eingefunden. 
West tröstete Campbells Begleiterin, während die RFS-Helfer Sattler und Hampton mehr als 200 Meter einen steilen Weg hinaufführten. „Es wird eine Herausforderung sein, die Ausrüstung hier hoch zu bekommen“, dachte Sattler. Als sie oben ankamen, steckte Campbell bereits seit mehr als 90 Minuten in ihrer misslichen Lage. Sattler spähte in die Felsspalte und konnte in der Dunkelheit nur die Fußsohlen der Frau sehen. „Das hatte ich nicht erwartet“, sagte er zu Hampton.

Eine sehr komplizierte Rettung 

Es sollte eine der kompliziertesten Rettungen werden, die sie je unternommen hatten. Zahlreiche Felsen mussten bewegt werden. Die beiden Felsbrocken, die den Spalt bildeten, waren massiv, aber es gab auch viele lose Steine, die in den Spalt fallen und sie verletzen oder ihre Bergung behindern könnten.
Sattler, der auch eine Sanitätsausbildung hatte, stellte Campbell ein paar Fragen nach ihrem Gesundheitszustand. „Können Sie tief einatmen?“, rief er nach unten. 
Sie antwortete, das könne sie nicht, ihre Brust sei zu sehr zwischen den Felsen eingeklemmt.
„Können Sie sich bewegen?“
Campbell sagte ihm, sie könne mit den Zehen wackeln und die Finger bewegen. Ihre Schulter tat weh, weil sie gegen einen Felsen gepresst wurde. „Sie war verängstigt, aber in ihrer Stimme war kein Schmerz zu hören“, sagte Sattler später. „Das war wirklich eine große Beruhigung für uns. Wir wussten, dass wir das Tempo drosseln und es richtig machen konnten.“ Sie mussten einen Plan ausarbeiten, aber zunächst waren sich Sattler und Hampton einig, dass sie ihre Kollegin vor Ort benötigten.
Nachdem sie den Stützpunkt der Einheit in Cessnock angerufen hatte, wurde Vicki West klar, dass sie keine Zeit haben würde, etwas zu essen einzupacken. West, Anfang 70, gilt als die gute Seele des Cessnock District Rescue Squad. In ihren 26 Jahren als Freiwillige ist sie diejenige geworden, die dank ihrer ruhigen Stimme und ihrer mütterlichen Art zum Einsatz kommt, wenn jemand in Not beruhigt werden muss. Sattler und Hampton halfen West, auf den Vorsprung zu klettern. Sie konnte nicht glauben, was sie sah, als sie in die Felsspalte spähte: Campbells Füße und ihre rechte Hand, mit lila Nagellack auf den Fingernägeln. Es schien unmöglich, dass jemand in einen so engen Spalt fallen konnte.
„Dumme Frage, aber geht es Ihnen gut?“, rief West zu Campbell hinunter.
„Ja, mir geht es gut. Aber könnt ihr mich rausholen?“
West versicherte ihr, dass das Team hart daran arbeite, sie zu retten, und begann dann mit ihr zu plaudern, um die Verunglückte bei Laune zu halten. Sie sprachen über Handtaschen und Campbells Leben in Newcastle, wo sie lebte und arbeitete. „Dafür, dass sie in so einer Lage steckte, war sie ziemlich gut gelaunt“, erzählt West. „Ich war sehr stolz darauf, wie gelassen sie blieb.“

Während sie sich unterhielten, legten die Retter einen Plan fest: Sie würden die Felsspalte verbreitern, indem sie einige der weniger stabilen Felsen wegräumten. So hätten sie genug Platz, um Seile um Campbells Unterkörper zu binden und sie aus der Spalte zu ziehen. Das würde nicht einfach sein, denn viele der Brocken, die bis zu einer halben Tonne wogen, mussten mit Flaschenzügen angehoben werden. Inzwischen steckte Campbell schon seit mehr als zwei Stunden kopfüber in der Felsspalte. Der Wind frischte auf, und über den Köpfen der Retter begann ein Eukalyptusbaum zu ächzen und zu knacken, der einige Monate zuvor bei einem Buschfeuer gebrannt hatte. Aus Sorge, dass der Baum auf das Team fallen könnte, verbrachten sie eine halbe Stunde damit, ihn mit Seilen zu sichern.
Je mehr Zeit verging, desto ängstlicher wurde Campbell. „Ich dachte, ich komme nie da raus“, verriet sie später Reportern der Zeitung Newcastle Herald. „Aber ich spürte, dass ich mich auf die Retter verlassen konnte, also blieb ich ruhig.“ Da Campbell jung und fit war, machten sich die Sanitäter vor Ort keine großen Sorgen um ihren Gesundheits­zustand. Dennoch wussten sie, dass ihre Situation mit jeder Stunde, die verging, prekärer werden würde. Menschen, die sehr lange kopfüber hängen, können sterben. Das Blut sammelt sich im Kopf und das Herz hat Mühe, den Kreislauf in Gang zu halten. Das Atmen fällt zunehmend schwerer. 
Die Rettungssanitäterin Nicole Priest war sich dieser Risiken bewusst, als sie an der Felsspalte saß und auf Campbells Füße hinunterblickte. Seit zwölf Jahren war sie als Rettungssanitäterin tätig und hatte eine spezielle Ausbildung erhalten, um Patienten unter schwierigen Bedingungen behandeln zu können. Dies war bei weitem die schwierigste Situation, die sie je erlebt hatte. Sie konnte Matilda Campbell nicht einmal erreichen, um ihren Blutdruck zu messen und andere Lebenszeichen zu überwachen. Campbell bat um Wasser. Das Team ließ eine Flasche an einem Seil herab, aber die junge Frau ließ sie fallen. Die Retter versuchten es erneut, aber sie ließ auch die zweite Flasche fallen.
Die Sanitäter zogen in Erwägung, eine „grüne Pfeife“, einen Inhalator mit Methoxyfluran zur Schmerzlinderung, zu verabreichen, aber Campbell sagte, ihre Schmerzen seien erträglich. „Wenn Menschen diese Medikamente bekommen, können sie schläfrig werden, und wir wollten ihren Bewusstseinszustand nicht beeinträchtigen“, sagt Priest.
Auch West machte sich zunehmend Sorgen. Campbell wurde immer müder und redete nicht mehr so viel. Nach einer längeren Redepause fragte sich West, ob die junge Frau ohnmächtig geworden war. 
„Bist du okay?“, rief sie.
„Ja, mir geht es gut“, antwortete Campbell.


Die Arbeiten zur Erweiterung des Spalts begannen. 

Die Retter entfernten vorsichtig etwa 30 Felsenn. Einige waren klein genug, um sie von Hand anzuheben und den Berg hinunterzurollen; andere wurden mit Brechstangen oder hydraulischen Spreizern aus dem Weg geräumt. 
Es ging sehr langsam voran. Beim Bewegen der Felsen öffneten sich Risse oder Felsbrocken verschoben sich. Jedes Mal musste der Plan geändert werden, um die Felsen stabil zu halten. Stunden vergingen; der Morgen ging in den frühen Nachmittag über. Der letzte Felsen wog etwa 500 Kilogramm. Das Team legte eine Schlinge um ihn und zog ihn mit einer Winde hoch. Schließlich war der Felsspalt breit genug, um Campbell zu erreichen.
Peter Watts, ein Rettungssanitäter mit jahrelanger Erfahrung in der Intensivpflege und Höhlenrettung, legte einen an einer Bremsleine befestigten Gurt an und wurde in den Spalt abgelassen. Dann brachte er an Campbells Finger einen Pulsoximeter an, der anzeigte, dass die Sauerstoffsättigung  des Bluts und ihre Herzfrequenz in Ordnung waren. Als nächstes ließ das Team eine Kamera in den Spalt hinab. Die Bilder zeigten ihnen, dass Campbells rechte Schulter nach hinten gedreht war. Würde man sie zu schnell herausziehen, bestünde die Gefahr, dass der Arm ausrenkt oder bricht.

Watts kroch kopfüber in die Felsspalte und legte eine Schlinge um Campbells Unterschenkel. Dann be­­festigte das Team zwei Seile an der Schlinge – eines, um sie mit einem Flaschenzug nach oben zu ziehen, und das zweite als Bremsseil, um zu verhindern, dass die junge Frau wieder nach unten rutschte.
Mehr als drei Stunden nachdem Campbell in die Felsspalte gefallen war, war es an der Zeit, sie herauszuziehen. Ganz langsam zogen sie das Seil nach oben. Campbells Körper bewegte sich ein paar Zentimeter. Watts, der nun flach auf dem Bauch lag, senkte die Schlinge ein wenig und brachte die Bremsleine wieder an. Dann zogen sie sie weiter nach oben. Campbells Beine kamen allmählich zum Vorschein. Sattler legte sich neben die Öffnung, ergriff ihre Oberschenkel und half Campbell, sich nach oben zu winden. 

Endlich frei!

Gegen 16 Uhr – mehr als sieben Stunden, nachdem sie in den Spalt gestürzt war – war Campbell wieder frei. Sie hatte kleinere Schürfwunden, ihr Gesicht war geschwollen, und ihre Beine waren blass. Als sie versuchte, aufzustehen, fiel sie sofort wieder hin. „Aber medizinisch gesehen ging es ihr viel besser, als wir es erwartet hätten“, sagt Priest. „Ihre Vitalwerte waren normal. Campbell wurde mit dem Krankenwagen ins John Hunter Hospital in Newcastle gebracht, wo sie einige Tage zur Beobachtung blieb. 

Die Rettung hätte auch ganz anders ausgehen können. Wäre Campbell nicht gekrümmt und auf einem Felsen gelandet, sondern völlig senkrecht, hätte sie vielleicht nicht überlebt. Priest dankt Campbell dafür, dass sie während der ganzen Tortur die Fassung bewahrt hat. „Sie war die perfekte Patientin. Sie hat es uns so leicht gemacht.“ Die Retter sind sich einig, dass dies die schwierigste Bergung war, die sie je durchgeführt hatten. Aber Sattler sagt, es sei ein Privileg gewesen, daran beteiligt gewesen zu sein. Matilda Campbell hat ihr Handy nie zurückbekommen – das nächste Mal, sagt sie, wird sie es liegen lassen, wo es hinfällt. „Man kann mit Sicherheit sagen, dass ich die unfallanfälligste Person überhaupt bin“, schrieb sie später auf Facebook. „Für eine Weile gibt es für mich keine Felsen mehr zu er­­forschen! „Ich möchte meinen Freunden und dem Team, das so hart gearbeitet hat, um mich herauszuholen, ein großes Lob aussprechen. Ich bin ihnen ewig dankbar, denn wahrscheinlich wäre ich heute nicht hier“, sagt Campbell.