Spannung

Autor: Simon Hemelryk & Joy Persaud

Rettung in 300 Meter Tiefe

Als George Linnane beim Höhlenklettern schwer verunglückt, reisen Hunderte Menschen an für eine spektakuläre Rettung tief unter der Erde.

Eine Höhlenklettererin und Forscherin mit Schutzhelm robbt auf dem Bauch durch eine enge Stelle zwischen Höhlenboden und Decke

©

©iStockphoto.com / salajean

Es war ein kalter Samstagmorgen im kleinen walisischen Dorf Penwyllt. In der Basis des South Wales Caving Club im Brecon Beacons National Park war alles bereits für die Feuerwerksparty der Bonfire Night, die am Abend dieses 6. November 2021 stattfinden sollte. Kurz nach neun Uhr morgens wartete George Linnane voller Vorfreude an der Basis auf seine Freunde Melissa („Mel“) Bell und Mark Burkey. Sie hatten eine relativ einfache fünfstündige Höhlenexpedition geplant, bevor sie sich später mit Freunden und Familie zum Feuerwerk treffen wollten. George (38) hatte eine 140 Kilometer lange Anreise aus England gehabt, wo er mit seiner Partnerin Julie wohnte. Mel (34) und Mark (52) lebten in den näher gelegenen englischen Midlands.

George musste nicht lange warten, bis sie auf den Parkplatz des Clubs fuhren. Während die drei wasserabweisende Overalls, Handschuhe, Stirnlampen und Helme anlegten, unterhielten sie sich über die Festlichkeiten, die am Abend stattfinden würden. Dann liefen die Freunde, die bereits mehrere Male zusammen Höhlen erkundet hatten, zum Eingang der Ogof Ffynnon Ddu, der Höhle der Schwarzen Quelle. Das etwa 60 Kilometer lange labyrinthartige System liegt unter den sanft geschwungenen Hügeln des oberen Swansea-Tals. Mit 310 Metern handelt es sich um die tiefste Höhle in Großbritannien.

Zehn Minuten lang kroch das Trio auf dem Bauch durch die Höhle, bevor es einen größeren Raum erreichte. Die Gruppe beschloss, die Schmiede- und die Obere Schmiedekammer zu besuchen, die über einen 20 Meter hohen Aufstieg vorbei an Felsvorsprüngen zugänglich sind. Sie benutzte keine Seile, was für erfahrene Höhlenkletterer üblich ist. Gegen 13 Uhr traten die drei ihren Rückweg Richtung Oberfläche an. Sie begannen, einen felsigen Boden in einer Spalte zu überqueren. Diese Passage war etwa zehn Meter tief und 1,5 Meter breit. Mark, von Beruf Industriekletterer, erreichte sicher die gegenüberliegende Seite. Dann sah Mel dabei zu, wie George vor ihr losging – und ohne Vorwarnung die Felsbrocken unter seinen Füßen nachgaben. George fiel vor ihren Augen in die Tiefe, doch inmitten der hinunterstürzenden Felsen konnte sie nicht sehen, wo er zum Stillstand gekommen war. Mel hoffte, er wäre sicher gelandet. Er war es nicht.

Mel saß nun auf dieser Seite fest und hatte Angst, sich zu bewegen, weil sich so Felsen lösen und George treffen könnten. „Ich kann nichts von ihm hören“, ging ihr durch den Kopf. „Ist er tot? Was, wenn er zerquetscht wurde?“ Mark und Mel riefen den Namen ihres Freundes. Erst nach ein oder zwei Minuten hörten sie ein Stöhnen. George war acht Meter gefallen, fast die Höhe eines dreistöckigen Hauses.

Abgestürzt!

„Ich muss zu ihm runter, um ihn zu untersuchen“, rief Mark Mel zu. Der ausgebildete Ersthelfer bewegte sich wieder in Richtung Spalte und ließ sich dann in eine metergroße Lücke zwischen den Felsen fallen. Auf Ellbogen und Beine gestützt, manövrierte er sich zu seinem Kumpel hinunter. Dieser lag auf dem Bauch, hatte einen schweren Beinbruch und aus einer Wunde unter seinem Kinn strömte Blut. Etwas hatte sich hinter dem Kieferknochen in seinen Mund gebohrt. Er benötigte dringend medizinische Hilfe. „Weißt du, was passiert ist?“, fragte Mark. „Weißt du, wer ich bin?“ Zu seiner Erleichterung antwortete George: „Ja, Mark. Es ist einfach eingestürzt.“ Er war bei Bewusstsein, wenn auch völlig schockiert. 

Mark wusste, dass noch niemand nach ihnen suchen würde. Es war etwa 13.30 Uhr; seine Frau erwartete sie erst nachmittags und würde nicht vor 17 Uhr Alarm schlagen. „Ich werde versuchen, Hilfe zu holen“, rief Mark und machte sich auf den kürzesten Weg zurück zur Oberfläche. Innerhalb von zehn Minuten erreichte er einen vier Meter hohen Überhang, den er normalerweise mit Seilen oder einer Leiter überwinden würde. Um keine Zeit zu verlieren, erklomm er ihn freihändig.

Nach einer weiteren Stunde durch schlammige Passagen hörte er Stimmen: eine Gruppe von Studenten. Sie hatten eben erst die Höhle betreten. „Geh zum Klubhaus und informiere das Rettungsteam, dass es einen Unfall gegeben hat“, beauftragte Mark ihren Leiter. „Ich bringe deine Gruppe zurück nach oben.“

Höhlenkletterer Gary Mitchell war im Klubhaus, als der Leiter der Studentengruppe ihm berichtete, was passiert war. Als Einsatzleiter begann Gary, weitere Helfende zusammenzutrommeln und die digitalen Geräte vorzubereiten, die zur Koordinierung der Rettung benötigt wurden. Da der South Wales Caving Club das Zentrum des South and Mid Wales Cave Rescue Team (SMWCRT) ist, befanden sich alle benötigten Ausrüstungen in der Nähe, ebenso wie viele Retter, die für die Party am Abend angereist waren.

Die Rettungsaktion startet

Mark erreichte zitternd und außer Atem das Klubhaus und informierte Gary über den Unfall. Innerhalb weniger als einer Stunde machten sich vier Höhlenkletterer, darunter Mark und Ersthelfer Steffan Davies, auf den Weg zu George. Sie nahmen Decken, Essen und Getränke mit, ein Erste-Hilfe-Set sowie Cave-Link, ein Kommunikationssystem, das Textnachrichten durch bis zu 800 Meter dickes Gestein senden kann. Gary blieb vor der Höhle, um die Rettung zu koordinieren, und schickte eine Nachricht an die Mitglieder des SMWCRT: „Vorfall in der Schmiedekammer. Noch sehr begrenzte Informationen, bitte gebt Bescheid, wenn ihr verfügbar seid.“

Unten in der feuchten Kluft waren 90 Minuten vergangen, seit Mark gegangen war. Mel konnte George nicht sehen, aber sie hielt ihn im Gespräch. „George, Hilfe ist unterwegs. Sag mir, was hast du für Weihnachten geplant?“, rief sie ihm zu. Insgesamt stellte sie dem Verunglückten Dutzende Fragen über seinen Job, seine Familie, seine Partnerin Julie und ihren gemeinsamen Hund. „Ich muss ihn bei Bewusstsein halten“, dachte sie. George wand sich vor Schmerzen, verlor Blut und hatte zunehmend Schwierigkeiten, zu atmen. Er war sich nicht sicher, ob er überleben würde. Seine kürzlich verstorbene Großmutter kam George in den Sinn. „Es fühlt sich an, als würde sie über mich wachen.“ Er glaubte auch mehrmals, Stimmen der Retter zu hören, doch es handelte sich um Illusionen seines benommenen Geistes.

Da es keine Anzeichen für Hilfe gab, überschlugen sich Mels Gedanken. „Wie lange warte ich hier, bevor ich etwas tun muss?“ George, der auf einem abschüssigen Hang lag, verlagerte sich, um das Gewicht von seiner Brust zu nehmen und sein zertrümmertes Bein neu zu positionieren, beides verursachte immense Schmerzen. Er schrie. Mel wurde still, besorgt um ihren Freund. Mehr als drei Stunden waren vergangen. Dann hörte George wieder Stimmen – dieses Mal waren sie echt! 

George ist schwer verletzt

Es fiel Steffan schwer, das volle Ausmaß der Verletzungen durch die Ausrüstung zu erkennen, aber die Schäden an Georges Bein und Kinn waren offensichtlich. „Ich bin Steffan Davies, einer der Ersthelfer“, stellte er sich vor. „Kannst du mir sagen, wo es wehtut?“ „Mein Bein“, stöhnte George. „Möchtest du etwas Morphin?“

„Ja, verdammt!“  Als sie versuchten, George Energiegel zu geben, sickerte es aus dem Loch in seinem Mund. Er zitterte und drohte zu unterkühlen. Es floss so viel Blut aus seinem Mund, dass Steffan fürchtete, George würde ersticken. Zusammen mit den anderen Rettern legte Steffan eine Schiene an Georges Bein, was diesem entsetzliche Schmerzen verursachte. Sein rasender Puls deutete auf mögliche innere Blutungen hin. Die Retter baten Einsatzleiter Gary um eine Wirbelsäulenschiene, Sauerstoffflaschen und eine Maske.

In der Zwischenzeit brachten zwei der Retter Mel über den Abgrund. Sie machte sich auf den Weg zum Klubhaus, wo sie bei Georges Partnerin Julie blieb, die inzwischen eingetroffen war. Der zweiten Gruppe, die unter Tage ging, gehörte Dr. Rebecca Specht an, ein Mitglied des SMWCRT. Die Gruppe erreichte George etwa sechs Stunden nach dem Unfall. Sieben Leute manövrierten den 1,83 Meter großen, athletisch gebauten Mann auf eine Trage. Dies glich laut Dr. Specht einem „gigantischen Twister-Spiel“ in einem sehr engen Raum, aber schließlich gelang es. George wurde in warme wasserdichte Schichten und eine robuste äußere Plane gewickelt.

Dr. Specht behandelte den Verletzten etwa sechs Stunden, um ihn zu stabilisieren und seine Schmerzen unter Kontrolle zu bekommen, bevor das Team versuchte, George zu bewegen. Angesichts seines Zustandes gab es keinen schnellen Weg, ihn aus der Höhle zu bringen. Oberirdisch las Gary die Nachrichten der Rettungsteams und erkannte, dass sie den Verunglückten nicht auf dem Weg herausbringen könnten, auf dem er hineingekommen war. Die Passagen waren zu eng.

Immer mehr Retterinnen und Retter kamen hinzu. Medizinisches Personal unternahm zahlreiche Touren in die Höhle. Die Teams wechselten sich ab, um zwischendurch schlafen und essen zu können. Elf Stunden nach dem Sturz, kurz nach Mitternacht, begann man vorsichtig, George aus der Kluft in einen offeneren Bereich der Höhle zu bewegen. Es war ein langwieriger Prozess. Die Retterinnen und Retter versuchten, es ihm so erträglich wie möglich zu machen und weitere Unfälle zu vermeiden, während Ärztinnen und Ersthelfer regelmäßig stoppten, um sicherzustellen, dass sich sein Zustand nicht verschlechterte.

George geht es immer schlechter

Die Notwendigkeit, George ins Krankenhaus zu bringen, wurde von Minute zu Minute dringlicher. Bis zu diesem Zeitpunkt waren zwar bereits Dutzende von Helfern erschienen, aber bei einer schwierigen Rettung müssen die Leute regelmäßig ersetzt werden, um sie nicht völlig zu überlasten.

Die Stunden vergingen. Trotz der ärztlichen Bemühungen kämpfte George mit Schmerzen. Er verlor immer wieder das Bewusstsein. Gegen 5.30 Uhr am Sonntag machte sich Dr. Brendan Sloan, medizinischer Offizier des British Cave Rescue Council, auf den Weg zur Höhle. Mit medizinischem Equipment in der Tasche zwängte er sich durch Tunnel und über Spalten und erreichte George gerade, als dieser eine steile Böschung hochgezogen wurde. Vor Ort war man bereits besorgt angesichts Georges Vitalzeichen.

„Seine Sauerstoffwerte sind nicht fantastisch“, dachte auch Dr. Sloan. Also wurden mehr Sauerstoffflaschen von der Oberfläche herangeschafft. Die nächsten sechs Stunden blieb Dr. Sloan an Georges Seite, während dieser durch die Tunnel bewegt wurde. Der Arzt wusste, dass unter der Erde ein  hohes Risiko der Unterkühlung besteht. „Wir richten einen Unterstand ein, um dich aufzuwärmen, sobald wir können“, sagte er zu George. Er verabreichte ihm eine Injektion, um die Blutungen zu verlangsamen.

Das Team musste George, auf der Trage festgeschnallt, zeitweise in die Senkrechte drehen, wodurch sich das Risiko erhöhte, dass er an seinem Blut oder Erbrochenem erstickte. In dieser Position wurde ihm zudem aufgrund seines niedrigen Blutdrucks schlecht, weshalb Dr. Sloan ihm ein Mittel gegen Übelkeit gab. Weiter vorn hatte das Team Seile gespannt, um einen Unterstand aus Rettungsfolien aufzubauen und George aufzuwärmen, bevor es weiterging. 20 Stunden waren seit dem Sturz verstrichen.

Die Retterinnen und Retter bewegten sich behutsam, überwanden Abgründe und Löcher, während sie George langsam durch die Gänge schoben. Für Distanzen, die Höhlenkletterer normalerweise in 15 Minuten zurücklegen, benötigten sie Stunden. Bereits 26 Stunden waren vergangen, als die Truppe einen unterirdischen Fluss erreichte. Sie befestigte Bojen an der Trage, bewegte George über das Wasser und versuchte, ihn trocken zu halten, während sie gegen die Strömung kämpfte.

 

Endlich draußen

In der Zwischenzeit, am Sonntagmorgen, waren Martin Grass und sein Team von Taklern, die mit Seilen und Leitern arbeiten, eingetroffen. Zehn Jahre zuvor war Martin an einer Rettung in derselben Höhle beteiligt gewesen und wusste, dass das Gelände zu schwierig war, um George auf dem Weg herauszuholen, den er hineingegangen war. Das Team verbrachte den Tag damit, einen alternativen Ausstieg vorzubereiten. Mittlerweile war der Unfall etwa 42 Stunden her. Es war früh am Montagmorgen. Der letzte, aber technisch anspruchsvollste Teil der Rettung stand bevor. Während George vertikal eine 18-Meter-Schräge hochgezogen wurde, stöhnte er. Das beruhigte Sloan, denn es war ein Zeichen, dass der Verunglückte atmete, obwohl er sich immer wieder erbrach.

Die Passagen waren so eng und gewunden, dass George einen Zahn verlor, als sein Kopf gegen die Höhlenwand stieß. Wegen seiner Verletzungen und Übelkeit konnte die Gruppe nur kriechen. Mehr als fünf Stunden später erreichte sie den letzten Abschnitt, in dem das Vorankommen leichter sein würde. Hier wurde Georges Zustand erneut medizinisch überprüft. Dann bildeten 70 Frauen und Männer eine Menschenkette und reichten die Trage weiter: George blickte in ein Meer von Gesichtern, von denen er viele erkannte. „Das ist fast angenehm!“, dachte er.

Schließlich, gegen 19 Uhr am Montag, den 8. November – 54 Stunden nach seinem Sturz –, wurde George aus der Höhle getragen und von vielen der rund 300 Menschen begrüßt, die sich zusammengetan hatten, um ihn zu retten. Mel und Mark atmeten erleichtert auf, als sie erfuhren, dass ihr Freund aus der Höhle heraus war – wenn auch in ernstem Zustand. Im Krankenhaus wurde er in den nächsten Tagen am Kiefer und am Bein operiert. Nach 16 Tagen konnte George die Klinik verlassen und erholte sich vollständig. Acht Monate nach dem Unfall nahm er das Höhlenklettern wieder auf. Zusammen mit Mark hat er eine Ausbildung zum Retter beim SMWCRT absolviert.

 „Auch nach fast drei Jahren treffe ich gelegentlich jemanden im Klub und bekomme die Geschichte meiner Rettung zu hören“, erzählt George. „Es beginnt normalerweise mit ‚Du siehst besser aus als beim letzten Mal, als ich dich gesehen habe …‘ Ich weiß es zu schätzen, dass jeder seine eigene Version der Geschichte hat. Ich bin jeder einzelnen Person dankbar.“