Spannung

Autor: Joseph P. Blank

SOS vom Meeresgrund

Lebendig begraben in einer Wassertiefe, aus der noch nie ein Mensch gerettet worden war, konnten die beiden Männer in ihrem Kleinst-U-Boot nur warten und hoffen.

Illustration eines unbemannten Tauchboots mit eingeschalteten Scheinwerfern unter Wasser

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©iStockphoto.com / Andrey Suslov

 

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Nach unzähligen Versuchen und Berechnungen hatten die Tauchbootfahrer, Ingenieure und Direktoren der Firma Vickers Oceanics die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks, wie es sich am Mittwoch, dem 29. August 1973, um 9.22 Uhr ereignete, auf höchstens eins zu einer Million veranschlagt. Dennoch passierte es.
Acht Stunden zuvor war das sechs Meter lange Kleinsttauchboot Pisces III mit Roger Mallinson und Roger Chapman 150 Seemeilen südwestlich der irischen Hafenstadt Cork fast 500 Meter tief auf den Grund des Atlantischen Ozeans getaucht. Sein Auftrag: ein frisch verlegtes transatlantisches Telefonkabel so einzugraben, daß es von den Schleppnetzen der Hochseefischer nicht beschädigt werden konnte. Die Männer pflügten mit einem Druckwasserstrahl unter dem Kabel entlang, das durch sein Eigengewicht in den Graben sank.

Roger Mallinson, ein 35-jähriger Ingenieur, und Roger Chapman, ein 28-jähriger ehemaliger Offizier, bildeten ein gutes Team. Das Nebeneinander in der Enge ihrer kugelförmigen Kabine, die nur einen Durchmesser von zwei Metern hatte, machte sie nie gereizt und unduldsam gegeneinander. Beide konnten sich gänzlich auf ihre Arbeit konzentrieren. Nachdem sie 1200 Meter Kabel eingegraben hatten, meldeten Mallinson und Chapman über Telephon an ihr Mutterschiff, die Vickers Voyager, sie bereiteten sich jetzt auf den halb­stündigen Aufstieg vor. Als Pisces III auftauchte, gab ein Taucher in einem Gemini-Schlauchboot eine Schleppleine herüber. Sobald die Verbindung hergestellt war, begann die Voyager das U-Boot wie einen kleinen Wal an der Angel­schnur einzuholen.
Plötzlich fuchtelte der Taucher wild mit den Armen. Irgendwie hatte sich die Leine hinter dem Lukenriegel des U-Boot-Schwimmkörpers verhakt. Der Lukendeckel wurde aufgerissen, über eine Tonne Was­ser ergoß sich in die Auftriebskammer. Pisces III sank bis ans Ende der 55 Meter langen Schleppleine und hing dort ein paar Sekunden. Dann brach das drei Zentimeter dicke Tau. Das Boot schoß in die Tiefe.

Die beiden sitzen in 480 Meter Tiefe fest

Mallinson und Chapman verstauten drinnen eilig alles Gerät und schalteten den Strom ab, um jede Brandgefahr auszuschließen. Dann kauerten sich zusammen. Die Fäuste geballt, wandten sie keinen Blick vom Tie­fenmesser. In der Falle. In 480 Meter Tiefe schlug das Heck der Pisces III auf und bohrte sich 30 Zenti­meter tief in den Schlamm. Die bei­den Männer warteten stumm ein paar Minuten, dann leuchteten sie mit einer Taschenlampe das Innere der Kabine ab. Sie schien unbeschädigt. Die Instrumentenwerte für Batteriespannung, Sauerstoff und Lithiumhydroxyd – zur Bindung des Kohlendioxyds in der verbrauchten Luft – waren unverändert. Chapman sprach über das Bordtelephon mit Ralph Henderson, der den Einsatz leitete. ,,Nur die Ruhe“, sagte Henderson. ,,Haltet den Innendruck. Keine unnötigen Anstrengungen. Wir kommen zu euch runter, sobald wir eine andere Pisces haben.“

Henderson verständigte über Funk die Firma in Barrow an der Nordwestküste Englands. Als Fregattenkapitän Peter Messervy, der Generaldirektor von Vickers Oceanics, die Unglücksbotschaft vernahm, be­schloß er sofort, sich auf die Voyager zu begeben und die Rettung selbst in die Hand zu nehmen. ,,Die Leute haben ausreichend Sauerstoff bis Samstag Morgen, vielleicht länger“, sagte er zu Sir Leonard Redshaw, dem Präsidenten der Vickers-Gruppe. Beiden war klar, daß noch nie ein Bergungsversuch in solcher Tiefe unternommen worden war. ,,Zeit“, überlegte Redshaw laut. ,,Die Ge­schichte der U-Boot-Katastrophen ist das Verrinnen der Zeit.“ Dann sagte er zu Messervy: ,,Besorgen Sie sich alles, was Sie brauchen könnten – alles. Rechnen Sie damit, daß eini­ges schiefgeht.“

Die Rettungsaktion läuft an

Die ganze Rettungsaktion hing nun an der Voyager. Sie mußte schnellstens zum Hafen, um die Tauchboote Pisces II und Pisces V zu holen. Beide sollten dann zu der verunglückten Pisces III hinuntertauchen und mit Hilfe von Greifarme Leinen anzubringen versuchen, an denen sie gehoben werden konnte. Bis jedoch ein anderes Schiff da war, mußte die Voyager auf ihrem Posten bleiben, um die beiden Markierungs­bojen im Auge zu behalten und in Sprechkontakt mit den Eingeschlos­senen zu bleiben. 
Die Pisces II kontrollierte in der Nordsee Rohrleitungen. Ein Versorgungsschiff wurde gebeten, sie schleunigst zum nächsten Hafen zu bringen, wo ein Hercules-Transporter bereitstand, um sie nach Cork zu fliegen. Bis aber die P II in Cork ankam, war auch die P V, die einer kanadischen Gesellschaft gehörte, per Flugzeug aus Halifax eingetroffen. Und im kalifornischen San Diego machte die US-Marine ein weiteres Rettungsgerät zur Überführung klar – ein fünf Meter langes unbemanntes U-Boot namens CURV III.

Bei Vickers hielten Ingenieure, Techniker, Taucher und Tauchbootfahrer Rat. Wenn nun keine Leine an der dafür vorgesehenen Hebevorrichtung zu befesti­gen war? Konnte die offene Luke, die das Unglück verursacht hatte, auch zur Rettung dienen? Eine Stunde später hatten die Ingenieure ein Gerät mit zwei Armen entworfen, die sich öffnen und zusammenklappen ließen. Man konnte es geschlossen durch die Luke einführen. In der wassergefüllten Kugel ließen die Arme sich spreizen, und das Tauchboot konnte an einer Leine hochgezogen werden. Auf dem Grund des Atlantiks rückten Mallinson und Chapman, um sich gegenseitig zu wärmen, nebeneinan­der. Die Temperatur lag bei 10 Grad, die Feuchtigkeit erreichte bald 98 Prozent, und beide froren sehr. In der Finsternis griff Chapman nach Mallinsons Hand. 
,,Alles klar, Kamerad?”
,,Bestens.”
,,Wenn ich schon hier sitzen muß, bin ich froh, daß du dabei bist.”
„Mir geht’s genauso”, antwortete Mallinson.

Den ganzen Tag hielt Henderson die Eingeschlossenen auf dem laufenden. Neun Stunden nach dem Unglück teilte er ihnen mit, daß ein Ersatzschiff eingetroffen sei und er mit seinen Sprechanlagen umziehen werde, damit die Voyager nach Cork aufbrechen könne. Die beiden Männer schöpften Mut. Zwölf Stunden brauchte die Voyager bis zum Hafen, ein paar Stunden für die Verladung der Rettungstauchboote, zwölf Stunden für die Rückkehr.

Der erste Rettungsversuch schlägt fehl

In der Nacht zum Freitag kehrte die Voyager zurück und nahm ihre Position über dem Tauchboot ein. Um 2.14 Uhr tauchte die P II zu ihrer Schwester hinab. Ihre Greifhand hielt einen Spreizhaken, der an einer Leine aus schwimmfähiger Kunstfaser hing, die provisorisch an der Seitenwand der P II befestigt war.
Das Tauchboot hatte gerade die 380-Meter-Marke passiert, als seine Fahrer das schreckliche Geräusch brechender Zurrings hörten – der Auftrieb der Leine war zu stark gewesen. In der nächsten Sekunde verbog die emporstrebende Leine den Greifarm. Die P II fiel vorerst für die Rettung aus. Auf der Voyager schüttelte Henderson mutlos den Kopf. ,, Wir haben Schwierigkeiten mit dem Greifer der P II“, meldete er an Mallison und Chapman. „Nichts Ernstes. Wir lassen sofort die Pisces V zu Wasser.“ Die gefangenen Männer sagten sich, daß mit solchen Pannen wohl zu rechnen war, und versuchten, ruhig zu bleiben.

Die P V mit zwei Kanadiern an Bord tauchte mit einem Karabinerhaken an einer 100-Millimeter-Leine im Greifer. Zwei Stunden lang suchte P V den Meeresboden ab. Doch ihr Sonargerät fand das Ziel nicht. Schließlich tauchten die Kanadier auf. Erst als die Elektronik repariert war, fanden sie das Tauchboot. Für die Eingeschlossenen war es ein dramatischer Moment. Bald würde ihre Prüfung zu Ende sein. Eine halbe Stunde später hatten die Kanadier den Karabinerhaken an der Hebevorrichtung von P III eingehängt. Da geschah ein neues Mißgeschick. Als die P V zurücksetzte, verdrehte sich der Haken und löste sich. Die Verbindung war gerissen.
Rasch fingen die Kanadier den losen Haken auf und hängten ihn in die Abdeckung der Steuerbordschraube der P III ein. Doch alle Versuche, das Tau provisorisch an der Hebevorrichtung zu befestigen, schlugen fehl, und schließlich mußten sie den Haken lassen, wo er war. Zum Bergen war diese Verbindung zwar zu schwach, aber sie stellte ein Bindeglied zwi­schen Tauchboot und Schiff dar und konnte bei weiteren Bergungsver­suchen zur Orientierung dienen.
Oben arbeiteten die Techniker fieberhaft an Pisces II, während die Voyager im Seegang stampfte und schlingerte. Seit nahezu 60 Stunden hatte von den Männern an Bord keiner geschlafen. Fast einen halben Kilometer unter ihnen warteten Mallinson und Chapman, mit hämmerndem Kopfweh und vor Kälte zitternd. Der zunehmende Kohlendioxydgehalt der Luft machte ihnen zu schaffen.

Wird es diesmal klappen?

Am Freitag abend teilte Voyager den Männern mit: ,,Pisces II ist tauchbereit. Wir sind bald bei euch.“ „Sehr gut. Wir wissen, was ihr da oben leistet.“ Pause. ,,Egal, was passiert.“ Es war das erste Mal, daß die Eingeschlossenen Zweifel am Ausgang des Unternehmens andeuteten. Kurz vor 20 Uhr wurde die Pisces II in Tauchposition gebracht. Noch nie war eine Pisces in so schwerer See zu Wasser gelassen worden, aber die Zeit drängte. Als das Boot in den Wellen verschwand, heulte eine Alarmsirene los: Wassereinbruch! Die beiden Fahrer des Boots bliesen schnell Preßluft in die Ballasttanks, um aufzutauchen, und die Pisces II wurde wieder an Bord der Voyager gehievt. Auf der Voya­ger nahmen die Experten P II unter die Lupe, um zu sehen, was den Wasseralarm ausgelöst hatte. In den Morgenstunden war die Ursache gefunden und beseitigt. P II war wieder einsatzbereit. Messervy beschloß, sie unverzüglich hinunterzuschicken.

Um 4.10 Uhr tauchte die P II mit einem Spreizhaken an einer 90-Millimeter-Leine in ihrem reparierten Greifarm. Schon nach 50 Minuten hatte sie das Tauchboot erreicht und den Spreizhaken in die Luke geschoben. Aber bei Vickers Oceanics überließ man grundsätzlich nichts dem Zufall. So versuchte das Rettungstauchboot zwei Stunden lang, die von den Kanadiern am Schraubenschutz der Pisces III hängen gelassene Leine an der Bergevorrichtung zu befestigen. Doch es ging einfach nicht. „Komme, was will, um 11.30 Uhr wird gehoben“, sagte Messervy zur Voyager-Mannschaft. ,,Wenn CURV bis dahin eine zweite Leine anbringen kann, gut. Wenn nicht, versuchen wir es mit der einen.“

Am Samstag Morgen um 9.40 Uhr, nachdem etliche technische Probleme gelöst worden waren, tauchte CURV mit einem zweiten Spreizhaken und einer starken, geflochtenen 150-Millimeter-Nylonleine. Nach 50 Minuten fand es die havarierte P III und senkte, getreu seinen elektronischen Befehlen folgend, den Spreizhaken in die Luke. Mallinson und Chapman hatten geschlafen, aber mit der Ankunft von CURV wurde ihnen bewußt, daß ihre Rettung unmittelbar bevorstand. Dann sagte man ihnen, daß die Bergung endgültig für 11.30 Uhr vorgesehen sei. So gern die Eingeschlossenen es glauben wollten, so wenig mochten sie sich schon freuen. Dazu waren sie zu oft enttäuscht worden.

Diesmal gelingt die Rettung

Inzwischen war der Leiter des Rettungseinsatzes, Bob Eastaugh, auf das Mutterschiff von CURV, die John Cabot, umgezogen. Das das Kabelschiff war für die Aufgabe, die P III in der schweren See vom Meeresgrund zu heben, besser ausgerüstet. Sowie die beiden Leinen auf der elektrischen Winde der John Cabot lagen, kam das lang erwartete Kommando: ,,Heben!‘‘ Es war 10.50 Uhr. Langsam wurde die Pisces III wie ein Fisch mit einem Haken im Schwanz eingeholt. Die schwere See ließ das hilflose Gefährt wie ein Jo-Jo auf- und abtanzen und wie ein Pendel hin- und herschwingen. Die Spreiz­haken schepperten fürchterlich, und die Eingeschlossenen fürchteten, die Leinen könnten brechen.
Als das Tauchboot sich 20 Meter unter der aufgewühlten Meeresoberfläche befand, stoppte die Winde. Messervy schickte einen Taucher hinab, um eine schwere Trosse an der Hebevorichtung des Tauchboots zu befestigen, damit es waagrecht aus dem Wasser gehoben werden konnte. Ein paar Minuten später ging es weiter aufwärts. 

Endlich wieder an der Oberfläche

Am Samstag Mittag um 13.17 Uhr wurde das Tauchboot aus dem Wasser gehoben und die Luke geöffnet. Mallinson und Chap­man zogen sich mit eigener Kraft heraus, erlöst von dem Grauen. 76 Stunden waren sie in einer Wassertiefe begraben gewesen, aus der noch nie ein Mensch gerettet worden war. Körperlich schienen sie sogar in besserer Verfassung als ihre stoppelbbärtigen, graugesichtigen Retter, die nach drei schlaflosen, quälenden Ta­gen und Nächten so erschöpft waren, daß sie auf das tief empfundene „Danke! Danke!“ der beiden Geretteten kaum noch lächeln konnten. Das einzige, was sie empfanden, war ein dumpfes Gefühl der Erleichterung.