Vollgas wider willen
Als das Auto unkontrolliert weiter beschleunigt riskiert ein Polizist alles, um es zu stoppen.

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Catherine Dutcher war gerade auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants eingebogen, um das Essen für ihre Familie abzuholen. Es war ein ganz normaler Abend im September 2024 in West Fargo im US-Bundesstaat North Dakota als ihr Telefon klingelte.
„Mama“, sagte ihr 18-jähriger Sohn Sam, „es passiert schon wieder.“ Catherine wusste sofort, was „es“ war. Etwa anderthalb Wochen zuvor war Sam am Steuer des perlweißen Honda Pilot seiner Mutter gesessen, als dieser einen eigenen Willen zu entwickeln schien. Sams hatte den Fuß gar nicht auf dem Gaspedal, aber das Auto, das davor noch nie Probleme bereitet hatte, beschleunigte trotzdem. Der Schüler am Minnesota State Community and Technical College trat auf das Bremspedal. Er hielt es so lange, bis das Auto in den sogenannten „Limp Mode“ ging, eine Sicherheitsfunktion moderner Autos, die aktiv wird, wenn ein Problem mit einem kritischen System auftritt. Als der Honda am Straßenrand zum Stehen kam, rief Sam seine Mutter an, und sie waren sich einig, dass er nicht versuchen sollte, nach Hause zu fahren. Stattdessen ließen sie den SUV zum Händler abschleppen. Mehrere Tage lang führten Techniker alle möglichen Tests durch, aber sie konnten die plötzliche Beschleunigung, die Sam erlebt hatte, nicht nachvollziehen.
An diesem Dienstag im September setzte Catherine Sam beim Autohaus ab, um den Honda abzuholen, und fuhr dann zum Schnellrestaurant Hardee’s. Der Teenager mit dem braunen Haar, das ein wenig an Mick Jaggers Frisur aus den späten 1960er-Jahren erinnert, setzte sich in das Auto, stellte Sitz und Spiegel ein und drückte auf den Startknopf. Alle Systeme normal. Sam begann die zehnminütige Fahrt nach Hause. Etwa zwei Kilometer vor seinem Ziel galt auf einer zweispurigen Straße ein Tempolimit von 55 Meilen pro Stunde (88 km/h), nachdem zuvor nur 40 erlaubt waren. Sam beschleunigte kurz, dann nahm er den Fuß vom Gaspedal. Doch das Auto wurde immer schneller.
Oh nein, dachte Sam. Nicht schon wieder! Er trat auf die Bremse – nichts. Er presste das Pedal auf den Boden und hielt es dort, um das Fahrzeug wieder in den Limp Mode zu zwingen. Diesmal klappte es nicht. Der junge Mann versuchte den Rückwärtsgang einzulegen, um das Getriebe zu blockieren. Das computergestützte System des Autos ignorierte alle Versuche.
Schließlich drückte Sam den Motorstartknopf und hielt ihn gedrückt. Doch das Auto fuhr einfach immer schneller. Er wollte den Blick nicht von der Straße abwenden, um den Notruf auf seinem Telefon zu wählen. Also versuchte er, den Anruf per Sprachbefehl zu tätigen. Die Antwort: „Diese Nummer ist nicht in Ihren Kontakten.“ Als die Geschwindigkeit des Autos über 120 km/h anstieg, wies Sam das Telefon an, eine Nummer zu wählen, die in seinen Kontakten gespeichert war – die seiner Mutter.
„Mama, es passiert schon wieder.“
Das Auto raste auf einer Landstraße ohne Ampeln an den Kreuzungen in Richtung Osten und näherte sich der Grenze zum Bundesstaat Minnesota. Sam hatte nicht nur Angst, mit einem anderen Auto zusammenzustoßen – er erzählte seiner Mutter auch, dass er fürchte, nicht anhalten zu können, wenn die Polizei ihn aufgrund der Geschwindigkeitsüberschreitung verfolgen würde und ihn zu stoppen versuchte. Catherine teilte Sam mit, sie werde die Polizei informieren, dass der weiße Honda, der durch die Stadt raste, dies nicht absichtlich tat. Dann wählte sie die Notrufnummer und wurde mit der Zentrale verbunden, die für den Bezirk Cass County im Bundesstaat North Dakota und zugleich den benachbarten Bezirk Clay County in Minnesota zuständig ist.
Deputy Zach Johnson saß in seinem Streifenwagen, als er über Funk mitbekam, dass im Nachbarbezirk ein Raser unterwegs war. Es wurde auch eine Frau in West Fargo erwähnt, die mitgeteilt habe, ihr 18-jähriger Sohn sitze in einem Auto, bei dem das Gaspedal klemmte. Genau wie Sam befürchtet hatte, dachten die Beamten, die sich über Funk unterhielten, dass es sich um einen Teenager handelte, der eine Spritztour machte. Aber Johnson war der Meinung, dass es sich – da die Mutter den Anruf getätigt hatte – nicht um einen dummen Streich handeln konnte.
Zum Glück waren die Straßen nicht zu voll und 90th Avenue, auf der Sam unterwegs war, eine lange Gerade. Auf der zweispurigen Strecke musste Sam immer wieder Autos und Lastwagen überholen. Einige Male blieb ihm nichts anderes übrig als auf den Seitenstreifen auszuweichen, um ein Auffahren auf die Fahrzeuge vor ihm zu vermeiden. Der Honda fuhr jetzt mehr als 130 km/h schnell, und bei jedem Ausweichmanöver bestand die Gefahr, dass Sam die Kontrolle verlor.
Zunächst dachte Johnson, dass er das Auto einholen könne, aber er erfuhr bald, dass Sam viel weiter östlich unterwegs war. Catherine Dutcher hatte die Handynummer ihres Sohnes an die Notrufzentrale weitergegeben, die diese an Johnson weiterleitete. Der Polizist beschloss, Sam anzurufen.
Der junge Mann antwortete sofort. Der Beamte hörte keine Panik in Sams Stimme und fragte ihn: „Wenn Sie auf die Bremse treten, passiert nichts?“
Der Honda Pilot näherte sich der Kreuzung mit dem Highway 75.
„Richtig, nichts passiert“, antwortete Sam Dutcher.
Johnson überlegte, ob eine Ecke der Fußmatte das Gaspedal festgehalten hatte. „Ist das Gaspedal eingeklemmt?“, fragte er.
„Nein“, versicherte Sam ihm. Das Gaspedal steckte nicht fest, er konnte es mit dem Fuß bewegen.
„Können Sie die elektrische Handbremse betätigen?“, fragte Johnson.
„Nein, das hat auch nichts gebracht“, antwortete Sam, während er über die Kreuzung mit dem Highway 75 raste.
Den Polizeibeamten schien nur noch eine Option übrig zu bleiben: Sie müssten sogenannte Stop Sticks auslegen – Streifen mit Metallstacheln, die die
Reifen durchstechen und die Fahrt so verlangsamen. Doch es wurde ein Wettlauf mit der Zeit. Sam fuhr auf die Stadt Hitterdal zu, dahinter endete die Straße nach etwa 13 Kilometern. Und die ganze Zeit über wurde der Honda Pilot immer schneller. Ein gutes Dutzend Kilometer sind nicht viel, wenn man mehr als 160 km/h schnell fährt.
Für den Polizisten Zach Gruver war dies sein „Freitag“.
So nennen die Beamten, die acht Tage am Stück arbeiten und dann sechs Tage frei haben, ihren letzten Arbeitstag. Als er um 17 Uhr begann, hoffte er auf eine ereignislose Schicht und freute sich schon auf den Feierabend. Seine Frau erwartete in zwei Wochen ihr erstes Kind. Gruver verbrachte die erste Stunde seiner Schicht damit, Autofahrerinnen und Autofahrer dabei zu beraten, wie sie Baby- und Kindersitze richtig einbauen und sichern. Danach wollte er zur Polizeistation in Moorhead fahren und eine Onlineschulung absolvieren. Aber zuvor musste er noch etwas erledigen. Der Polizist hatte an diesem Tag einen Ölwechsel an seinem Dodge Charger durchführen lassen und machte einen kurzen Umweg, um die Quittung bei der Dienststelle in Detroit Lakes einzureichen sowie sich die Kosten erstatten zu lassen.
Hätte er an seinem Schreibtisch gesessen, als er die Nachricht über den Honda Pilot mitbekam, wäre Gruver zu weit von Sam Dutcher entfernt gewesen, um eingreifen zu können. Stattdessen war er, als der Disponent die Information weitergab, in dieselbe Richtung wie der junge Mann unterwegs, etwa 32 Kilometer vor ihm und etwa acht Kilometer südlich der Straße, auf der Sam sich befand.
„Ich werde versuchen, auf der 90th Avenue Stop Sticks einzusetzen“, sagte er auf dem Funkkanal von Clay County und gab Gas. Zach Gruver fuhr den Highway 9 entlang, etwa 22 Kilometer östlich der Staatsgrenze zu North Dakota, konnte aber die 90th Avenue nicht vor Sam erreichen. Er sah die Blaulichter der Polizeiautos von Cass County, die den Honda verfolgten, als er sich von Süden her näherte.
Die Kollegen fuhren Chevrolet Tahoes, die eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 190 km/h erreichten. Gruvers Charger konnte dagegen auf bis zu 225 km/h beschleunigen. Er gab Vollgas und überholte die anderen Polizeifahrzeuge. Sams Honda Pilot konnte er nicht sehen. Wo ist dieses Auto?, fragte er sich.
Sam fuhr so schnell, dass er sich von den verfolgenden Polizeiautos entfernt hatte.
Gruver erblickte schließlich den Honda. Er fuhr so nah heran, dass sein Frontradar die Geschwindigkeit messen konnte: Sam raste mit 150 km/h dahin. Bevor er darüber nachdenken konnte, wie er weit genug vorausfahren konnte, um die Stop Sticks auszulegen, stellte Gruver fest, dass sie sich der Kreuzung mit dem Highway 32 in Hitterdal näherten.
Die Sonne war untergegangen, die Sicht wurde schlechter, und an der Kreuzung gab es zwar Stoppschilder für den Verkehr in Richtung Osten und Westen, aber nicht für Autos, die auf dem Highway nach Norden oder Süden fuhren. Sam, der in östlicher Richtung unterwegs war, würde möglicherweise ein querendes Fahrzeug rammen.
Gruver überholte den Honda und bremste an der Kreuzung ab, in der Hoffnung, andere Verkehrsteilnehmer warnen zu können. Das erwies sich zum Glück als nicht nötig – es waren keine anderen Autos unterwegs, als Sams Honda förmlich über die Kreuzung flog. Aber jetzt musste der Polizist das Gaspedal durchtreten und Sam wieder überholen. Gruver unterhielt sich per Funk mit Johnson – der immer noch mit Sam telefonierte – und mit Brandon Desautel, der ebenfalls den Honda von Sam verfolgte. Mittlerweile verließen die Fahrzeuge Clay County, und Johnson erkannte, dass sie noch etwa fünf Kilometer vor sich hatten, bevor die asphaltierte Straße endete. Das bot nicht genug Zeit für Gruver, um anzuhalten, den Kofferraum zu öffnen und die Stop Sticks auszulegen.
Die höchste Geschwindigkeit, die Sam Dutcher vor diesem Tag je gefahren war, lag bei etwa 150 km/h. Er hatte den Honda Pilot gut unter Kontrolle – „das Fahrzeug ließ sich für diese Geschwindigkeit wirklich gut steuern“, berichtete er später. Doch inzwischen war das Auto mit 170 km/h unterwegs und Sam hatte zu kämpfen. Ein unbedachter Ruck am Lenkrad, ein Schlagloch auf der Straße, und schon konnte er die Kontrolle verlieren. Jetzt, nach etwas mehr als 15 Minuten in diesem halsbrecherischen Albtraum, kam dem 18-jährigen Autofahrer zum ersten Mal der schreckliche Gedanke in den Sinn: Ich werde heute Nacht sterben.
Inzwischen wurde Catherine Dutcher von der Notrufzentrale informiert: „Es sind zahlreiche Polizeibeamte und Sanitäter zu Ihrem Sohn unterwegs.“
Anstatt sie zu beruhigen hatte diese Information den gegenteiligen Effekt auf die besorgte Mutter. Sie wusste, dass Rettungskräfte geschickt wurden, wenn man etwas Schlimmes erwartete. Catherine befürchtete, dass ihr Junge nicht überleben könnte. Sams Vater, Timothy Dutcher, fuhr los, um bei Sam sein zu können, während Catherine zu Hause bei ihrem zweiten Sohn blieb.
Für die Polizisten war es Zeit für einen letzten Versuch, um eine Tragödie zu verhindern. Die Beamten haben trainiert, bei der Verfolgung von in einem Auto Flüchtenden eine Interventionstechnik anzuwenden, bei der sie deren Fahrzeug von hinten touchieren, um es zum Schleudern zu bringen und so zu stoppen. Gruver bezweifelte, dass dies bei der hohen Geschwindigkeit sicher möglich war. Das wird weder für ihn noch für mich gut ausgehen, dachte er.
Der Polizist hatte eine Idee. Er würde sich vor den Honda setzen und seinen Charger abbremsen, um so Sams Auto zu stoppen. „Ich lasse ihn sanft auffahren“, sagte Gruver zu seinen Kollegen Johnson und Desautel. „Dann bremse ich einfach ab, und hoffentlich ...“ Gruver hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ob es funktionieren würde oder nicht. Es musste klappen, denn die Alternative wäre, dass der Junge mit mehr als 150 km/h von der Straße abkommt. Wenn Gruver im Einsatz ist, nimmt er immer seinen Ehering ab und steckt ihn in den Becherhalter. Als sein Auto jetzt durch Becker County raste, steckte er den Ring an seinen Finger. Wenn das nicht klappt und wir ins Schleudern geraten, will ich meinen Ehering nicht verlieren, dachte der werdende Vater.
Das rasende Auto soll sanft vom Polizeiauto gestoppt werden - indem es auffährt
Gruver gelang es, Sam zu überholen. Desautel positionierte sein Auto links neben dem Honda, um so zu verhindern, dass das Auto aus der Spur geriet. Als Gruver begann, langsamer zu werden, versuchte der Teenager, ihn zu überholen – der Plan war ihm nicht kommuniziert worden.
Johnson erklärte Sam, was sie vorhatten. „Sie wollen also, dass ich hinten auf das Polizeiauto auffahre?“, fragte Sam ungläubig.
Johnson erhob seine Stimme ein wenig. „Ja“, sagte er entschieden.
Sam versuchte, sein Auto hinter Gruvers Fahrzeug zu platzieren. Und dann geschah etwas Unerwartetes: Der Honda wurde langsamer! Das elektronische System zur Kollisionsvermeidung erkannte ein Auto vor sich und begann, die Geschwindigkeit zu verringern. Gruver verlangsamte auf 80 km/h und beobachtete Sams Auto in den Rückspiegeln. Der Honda kam so nah heran, dass die Scheinwerfer im Spiegel auf der Fahrerseite nicht mehr zu sehen waren. Als Gruver den Kopf drehte, um im Beifahrerspiegel nach dem Auto zu suchen, prallte Sams Fahrzeug auf seines.
Gruver trat auf die Bremse und hielt sie getreten, bis beide Autos zum Stehen kamen. Die Räder an Sams Honda drehten durch, die Reifen quietschten – aber Gruver ließ die Bremse nicht los. Desautel schob seinen Streifenwagen links an den Honda Pilot heran, sprang aus seinem Auto und half Sam, auf der Beifahrerseite auszusteigen.
Weder Sam noch die Beamten können sagen, wie lange es dauerte, aber irgendwann ging der Motor des Honda aus. Nachdem er höllische 20 Minuten lang fast 50 Kilometer auf den Straßen von North Dakota und Minnesota zurückgelegt hatte, war die Fahrt für Sam endlich zu Ende.
Warum das Auto Vollgas fuhr, ist bis heute ungeklärt
Johnson traf ein paar Minuten später ein. „Hey“, rief er dem jungen Mann zu, mit dem er telefoniert hatte, „es kommt nicht allzu oft vor, dass man 170 km/h schnell fährt, in einen Streifenwagen kracht und danach nach Hause gehen darf, weißt du?“ Monate später war immer noch nicht geklärt, warum das Auto der Dutchers sich so verhalten hatte. Techniker von Honda untersuchten das Fahrzeug gründlich, und Vertreter der Straßenverkehrsbehörde National Highway Traffic Safety Administration werden das auch noch tun. Das Auto wurde von der Versicherung als Totalschaden eingestuft.
Sam ist zwar unverletzt davongekommen, aber der Gedanke an den Vorfall lässt ihn nicht mehr los. In den meisten Nächten hat er Albträume, in denen er seine Fahrt noch einmal durchlebt. Er war etwa zwei Wochen lang nicht bereit, Auto zu fahren, und selbst nachdem er sich wieder hinter das Lenkrad gesetzt hatte, „ist er immer noch nervös“, bedauert Catherine. „Wenn er Sirenen hört oder ein Auto sieht, das einem Streifenwagen ähnelt, kann man fast sehen, wie er erstarrt.“
Der Teenager ist inzwischen zurück in der Routine seiner Kurse am Minnesota State Community and Technical College – wo er ausgerechnet zum Automechaniker ausgebildet wird. Wenn jemand mit einer Leidenschaft für Kraftfahrzeuge das Recht hat, sich 40 Stunden pro Woche mit Autos zu beschäftigen, die genau 0 km/h fahren, dann ist es Sam Dutcher.
Einige Tage nach dem Vorfall traf Gruver vor dem Büro der Highway Patrol in Moorhead wieder mit Sam zusammen, der von seiner Mutter begleitet wurde. Als der Polizist ihr seine rechte Hand entgegenstreckte, fragte Catherine: „Darf ich Sie umarmen?“ Sie schlang beide Arme um den Beamten, der ihrem Sohn das Leben gerettet hatte. „Ein Händedruck hätte nicht ausgereicht“, betonte sie später.