Die Schrammen des Lebens
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Mein Enkel Pip klettert die künstliche Felswand auf dem örtlichen Spielplatz hinauf. Ich stehe hinter ihm, bereit, ihn aufzufangen, falls etwas schiefgeht. Ich verlagere mein Gewicht auf ein Bein, dann auf das andere und dann wieder zurück. Meine Arme strecken sich in die eine und dann in die andere Richtung. Das Ganze ist ungemein elegant. Ich nenne es „Großeltern-Tai-Chi“.
Klar, eigentlich sollte ich mich auf die Bank setzen und Pip einfach machen lassen. Schließlich befinden wir uns auf einem Spielplatz. Die Kletterwand ist nur anderthalb Meter hoch und der Boden vor ihr gepolstert. Falls mein Enkel fällt, zieht er sich eher Prellungen als Brüche zu. Und doch schwanke ich graziös von einer Seite zur anderen – ohne einzugreifen, da Pip keine Hilfe möchte. Ich bin lediglich das Sicherheitsnetz.
Als ich ein junger Vater war, wurde mir bewusst, dass die Erziehung eines Kindes mit gewissen Risiken verbunden ist. Ich versuchte, die möglichen Verletzungen bei jeder Aktivität abzuschätzen. Schwere Verletzungen mussten vermieden werden, aber ein aufgeschürftes Knie war ein Ehrenabzeichen. Eine Beule am Arm war die Medaille für einen gut verbrachten Tag. Pips Vater kletterte auf einen Baum und ich dachte: „Das Schlimmste, was passieren kann, sind Schnittwunden, Flecken und 30 Minuten Geschrei. Lass ihn machen!“ Dann stieg er einen halben Meter höher, ich stufte die möglichen Verletzungen als „reif für die Notaufnahme“ ein und bestand darauf, dass er seinen Ehrgeiz zügelte.
"Keine Verletzungen unter meiner Aufsicht"
Elternschaft ist ein langes, süßes Lied aus Freude und Angst. Ein Teil von einem ist immer damit beschäftigt, den Horizont nach Gefahren abzusuchen. Das hört nie auf. Ich bin sicher, dass es 99-Jährige gibt, die wegen ihrer Kinder im Seniorenalter unruhig sind. Sie machen sich Sorgen um ihre 76-jährige Tochter, die nach einem Besuch bei ihnen das Pflegeheim verlässt und die Straße überquert. „Ich hoffe, sie denkt daran, in beide Richtungen zu schauen. Sie lässt sich immer so leicht ablenken.“ Wenn dann noch Enkelkinder dazukommen, muss man den Kreis erweitern. Mehr Freude. Mehr Horizont.
Ich möchte, dass Pip abenteuerlustig ist. Ich möchte, dass er die Kletterwand erklimmt, die Rutsche hinunterrast und auf der Schaukel so hoch schwingt, dass er das Gefühl hat, den Himmel zu berühren. Dennoch bin ich bei Pip vorsichtiger als bei seinem Vater. Er gehört mir nur für diesen Tag. Meine Einstellung zu Verletzungen: „Nicht unter meiner Aufsicht.“
Das Mietwagensystem für Großeltern
Es ist wie der Unterschied zwischen einem Mietwagen und dem eigenem Fahrzeug. Wenn Sie mit dem Leihauto vom Flughafen wegfahren, stellen Sie sich schon den Moment vor, in dem Sie es in Darwin, Australien, zurückgeben: mit einem Kakadu im Kühlergrill und einem kaputten Rücklicht, da Sie versucht haben, rückwärts am Uluru einzuparken. Das Ganze ist mit Angst behaftet.
Ein Enkelkind für einen Tag zu haben, ist dasselbe. Man möchte nicht mit einer Erklärung zurück zur Übergabe kommen müssen. Die Sache ist nur die: Oft erhält man das Enkelkind – genau wie den Mietwagen – nicht im Originalzustand. Während ich Pip an der Kletterwand beobachte, bemerke ich, dass er bereits ein paar Macken aufweist. In einer seiner Kniekehlen prangt ein Mückenstich, und an einem Ellbogen hat er einen deutlichen Kratzer. Ich bin mir ziemlich sicher, beides war schon vorhanden, als ich ihn in Empfang nahm. Da kommt mir ein Gedanke: Vielleicht sollten wir das Mietwagensystem auf das Großelterndasein ausweiten. Es könnte eine gedruckte Umrisszeichnung des Kindes geben, auf der man bereits vorhandene Dellen mit einem „X“ markieren kann.
Die Schrammen des Lebens
Während des restlichen Tages bin ich mir jeglicher Unwägbarkeiten mehr als bewusst. Habe ich die Tür zum Schuppen abgeschlossen, der voller Gefahren steckt? Enthalten diese alten Spielzeugautos bleihaltige Farbe? Dann muss ich Pip unbedingt die Hände waschen, nachdem er damit gespielt hat. Mein Enkel wird – so vorsichtig die Menschen in seiner Umgebung auch sind – unweigerlich die Schrammen des Lebens davontragen. Der menschliche Körper ist schließlich nur eine Landkarte vergangener Missgeschicke: hier die verbogene Nase durch einen missglückten Kopfball, dort die verwegene Narbe, die ein Fahrradunfall hinterlassen hat. Mein kaputter großer Zeh stammt von einem unrühmlichen Ballettversuch vor etwa fünf Jahrzehnten.
Sollte Pip sich in den kommenden Jahren bei einer ähnlich nützlichen Tätigkeit den Arm brechen, werde ich als Erster auf seinem Gips unterschreiben: „Schön, dass du endlich eine Pause einlegst.“ Und ich werde sicher einen Nachtrag hinzufügen. „PS: Diese Verletzung ist nicht unter meiner Aufsicht passiert.“ Hoffentlich habe ich dann auch die Mietunterlagen, um das zu beweisen.





