Anne-Sophie Mutter: „Ich wusste mich immer zu behaupten“
Ein Interview mit der Stargeigerin über Mut, Schicksalsschläge und „MeToo“-Momente.

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Schon als Teenager stieg Anne-Sophie Mutter in den Olymp der Stars klassischer Musik auf. Den frühen Beginn ihrer Karriere verdankt die Geigerin auch der Förderung durch Herbert von Karajan, den legendären Dirigenten der Berliner Philharmoniker. Seither begeistert Mutter, die am 29. Juni 60 Jahre alt wird, mit ihren Konzerten in aller Welt ebenso wie mit ihren Einspielungen der Werke von klassischen und zeitgenössischen Komponisten.
Reader’s Digest: Diesen Sommer feiern Sie Ihren 60. Geburtstag. Was empfinden Sie bei solchen Jubiläen?
Anne-Sophie Mutter: Ich finde jeden Geburtstag großartig. Ich freue mich über jeden einzelnen. Ich werde mit meinen Kindern und Freunden verreisen und mich wahnsinnig freuen und feiern bis zum Umfallen. So wie jedes Jahr.
Sie sind seit Jahrzehnten Musikerin von Weltrang und gehen doch immer wieder auch Neues an.
Ich möchte mich einfach aus meiner Komfortzone bewegen. Die ist mir suspekt und langweilig. Und deshalb mache ich ständig Dinge, die ich mir eigentlich nicht zutraue – wie beispielsweise den Sprung in die Filmwelt oder in die zeitgenössische Musik, die mich jedes Mal an den Rand des Wahnsinns bringt, obwohl man denken könnte „Die Frau macht das seit über 30 Jahren“.
Privat mussten Sie Schicksalsschläge wie den Verlust Ihres ersten Mannes 1995 überwinden. Wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?
Mein Gefühl für das, was andere Menschen brauchen und wo ich helfen kann, hat sich durch diese Lebenskrise unglaublich verschärft. Vielleicht hat mir die Hinwendung zu den Schicksalen anderer geholfen, mein eigenes zu relativieren. Womöglich war das gar nicht einmal so selbstlos, sondern eine Möglichkeit, Halt zu finden, indem ich mehr für andere da war als zuvor. Vorher war ich einfach nur glücklich mit meinem Leben. Ich hatte zwei wunderbare Kinder sowie einen hinreißenden Mann, und alles war paradiesisch.
Sie mussten sich allein um Ihre Kinder kümmern ...
Ich habe mich als alleinerziehende Mutter gesehen, die arbeitet wie Millionen andere Frauen auch. Jedoch bin ich megaprivilegiert. Ich konnte nur deshalb weiterarbeiten und mit den Kindern reisen, weil ich Hilfe hatte. In jedem Falle ist für mich das Allerwichtigste das Wohl meiner Kinder. Womit ich nicht sagen will, dass ich als Mutter alles richtig gemacht habe. In gewissem Sinne ist das ein Experiment am lebenden Menschen. Man fällt unvorbereitet in so eine Situation, und selbst 20 bis 30 Jahre später versteht man nicht alles. Es ist beruhigend zu wissen, dass der Mensch sehr resilient ist und einiges aushält.
Als Frau im männerorientierten Musikbetrieb haben Sie vermutlich Resilienz, also Anpassungsfähigkeit, benötigt. Kamen Sie jemals durch sexistisches Verhalten in Schwierigkeiten?
In Schwierigkeiten nicht. Aber ich verfüge auch über gute Wegrenn-, Zuschlag- und Wegduckfähigkeiten.
Wann haben Sie zugeschlagen?
Ich bin ein sehr pazifistischer Mensch, aber in „MeToo“-Momenten weiß ich mich zur Wehr zu setzen. Ich bin mit älteren Brüdern aufgewachsen. So gesehen bin ich durch eine gute Schule gegangen. Dafür bin ich dankbar. Ich wusste mich immer sehr deutlich, sehr direkt und schnell zu behaupten.
Bewegt sich die Branche in die richtige Richtung?
Ja, aber es ist natürlich auch ein rassistisch geprägter Betrieb, was man nicht vergessen darf. Das sehen wir schon am rein männlich-weißen Repertoire. Die Diskussionen im Rahmen der „MeToo“- und „Diversity“-Bewegungen haben auf jeden Fall einiges in Gang gebracht. Es ist jetzt an jedem von uns, das in die Tat umzusetzen – in der Repertoirewahl wie auch der viel breiteren Auswahl von Künstlerinnen und Künstlern.
Was gibt Ihnen die Energie, sich immer wieder durchzubeißen? In einem Film über Ihr Leben sprechen Sie von Ihrer Liebe zur Natur.
Menschliche Beziehungen stehen bei mir an allererster Stelle. Zwar würde ich nicht immer in der Natur leben wollen, aber es ist schön, dahin zurückzukommen. Im Zweifelsfall habe ich lieber die Stille als den Lärm.
Anne-Sophie Mutter
kam am 29. Juni 1963 in Rheinfelden (Baden) zur Welt. Mit fünf Jahren erhielt sie Geigenunterricht und wurde rasch als Ausnahmetalent erkannt. Nach ihrem Konzertdebüt 1976 trat sie ein Jahr später bei den Salzburger Pfingstkonzerten unter der Leitung von Herbert von Karajan und seither in den renommiertesten Konzertsälen der Welt auf. 1994 gewann sie ihren ersten Grammy, drei kamen später hinzu. Von 1989 bis zu dessen Tod 1995 war sie mit dem Anwalt Detlef Wunderlich verheiratet, mit dem sie eine Tochter und einen Sohn hat. Ihre zweite Ehe mit Pianist, Komponist und Dirigent André Previn dauerte von 2002 bis 2006.