Ein Seniorenheim für Elefanten
Ein belgisches Paar hat einen friedlichen Zufluchtsort geschaffen, an dem betagte Dickhäuter in Würde ihren Lebensabend verbringen können.
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Mit großen Schritten nähert sich Tony Verhulst dem Zaun, in den Händen hält er einen Eimer voller Obst und Gemüse. „Lass es dir schmecken, das ist gut für deine Gesundheit!“, ruft der gertenschlanke Pfleger und beobachtet begeistert, wie die Asiatische Elefantendame Delhi genüsslich Ananas, Melone und Salat mampft.
An diesem Frühlingsmorgen verputzt die Elefantenkuh – wie jeden Tag – mindestens zehn Kilogramm Obst und Gemüse, dazu mehr als 100 Kilogramm Heu, Gras und Weichholz. Ihre Artgenossin Gandhi, mit der Delhi 29 Hektar Weideland teilt, schiebt ihren Rüssel zwischen den dicken Drähten des Zauns hindurch und sucht den Kontakt zu Tony. „Die drei haben wirklich eine besondere Beziehung, sie verstehen sich prächtig“, sagt Tonys Lebensgefährtin Sofie Goetghebeur erfreut. „Die Zäune sind elektrisch, stehen aber nicht unter Strom“, beruhigt sie uns. Die beiden Elefanten sind sehr friedlich. Delhi wurde 1983 geboren, Gandhi 1969; sie sind also zwei Damen fortgeschrittenen Alters, wenn man bedenkt, dass Asiatische Elefanten rund 60 Jahre alt werden können.
Doch Asien ist weit weg. Wir sind in Bussière-Galant, einer kleinen Gemeinde mit 1400 Einwohnern im Herzen des Naturparks Périgord-Limousin. Hier im Südwesten Frankreichs gibt es zwar keine Tropenwälder, doch die beiden Riesen fühlen sich trotzdem wohl im Elephant Haven* (Elefantenzufluchtsort), wie ihr neues Zuhause heißt. Es ist weder Zoo noch Tierpark und öffnet seine Türen nur in Ausnahmefällen für Besucher. „Willkommen im einzigen europäischen Seniorenheim für Elefanten!“, begrüßt uns Sofie. Das sagt sie ganz bescheiden, denn sie und ihr Lebensgefährte, beide 52, sind von Natur aus eher zurückhaltend. Dabei mussten sie Himmel und Erde in Bewegung setzen, bevor sie betagte Elefanten aus Zirkussen und Zoos aufnehmen durften.
Im Elephant Haven haben die Dickhäuter keine Pflichten. Sie selbst entscheiden, ob sie sich den Pflegern nähern und ob sie geduscht werden wollen oder nicht. Doch auch an diesem Morgen kommen Delhi und Gandhi herbei und stellen nacheinander ihre Füße auf einen stabilen Hocker.
Die „Damen“ kennen den Ablauf: Zunächst untersuchen die Pfleger die Polster an ihren Fußsohlen. Tony sucht jeden Fuß auf eingelaufene Steine oder Entzündungen ab, an denen Elefanten häufig leiden. Diese „ärztliche Kontrolle“, wie Sofie sie bezeichnet, gehört zur regelmäßigen Vorsorge, bei der auch Augen, Ohren und Haut untersucht werden.
Für Sofie, Tony und die beiden Pfleger, die sie bei ihrer Arbeit unterstützen, dreht sich alles um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Tiere. „Wir müssen da sein“, erklärt Sofie, „uns aber so weit wie möglich im Hintergrund halten.“ Die Elefantenkühe hatten stets Kontakt zu Menschen und würden in freier Natur wahrscheinlich nicht überleben. Das Refugium bietet ihnen ein Umfeld, das der Freiheit am nächsten kommt.
2012 entstand die Idee zur Gründung von Elephant Haven. Sofie und Tony waren damals Pfleger im Zoo von Antwerpen in Belgien – seit mehr als 20 Jahren arbeitete Tony mit Elefanten und Sofie mit Affen. „Eine Idee geisterte uns im Kopf herum“, erinnert sich Tony. „Wie können wir mehr für die Tiere tun, und vor allem, was können wir besser machen? Wir wollten einen Ort schaffen, wo das Wohlergehen der Tiere oberste Priorität hat.“ Dabei dachte Tony zunächst an ein Schutzgebiet für Zirkuselefanten. Denn seit Anfang der 2010er-Jahre verbieten immer mehr europäische Länder, Wildtiere in der Manege vorzuführen. Tierärztin Florence Ollivet-Courtois, die das Paar kurze Zeit später kennenlernte und Elephant Haven auch heute noch unterstützt, schlug vor, das Projekt neu auszurichten: „Heute gibt es weniger als 200 aktive Zirkuselefanten in Europa“, sagt sie. „Dagegen kommt es häufig vor, dass ältere Elefanten in Tierparks und Zoos vereinsamen, vor allem nach dem Tod ihrer Partner – was ihnen schwer zu schaffen macht, weil sie gesellige Tiere sind.“
Aber zuerst musste ein geeigneter Ort für die Elefanten gefunden werden. „Wir wollten eine Menge Platz mit viel Gras, ein gemäßigtes Klima, Wasser-
stellen und Obstbäume. Die Gegend durfte kein Risikogebiet für Waldbrände oder Erdbeben sein, der Kaufpreis bezahlbar und … die Leute mussten uns willkommen heißen!“, zählt Sofie auf. Monatelang suchte das Paar von Antwerpen aus irgendwo in Europa einen Ort, der ihre lange Liste an Kriterien erfüllte.
„Meinen Sie das wirklich ernst?“
Als Emmanuel Dexet, der Bürgermeister von Bussière-Galant, Sofie und Tony 2016 in seinem Büro empfing, machte er keinen Hehl aus seiner Überraschung. Seine Gemeindemitglieder waren es eher gewohnt, Rehen und Eichhörnchen zu begegnen als Elefanten. Doch Sofie und Tony meinten es durchaus ernst! Seit Jahren feilten sie an ihrem Projekt. Aus einem dicken Ordner zogen sie die Pläne heraus und breiteten sie auf dem Schreibtisch aus. Sie erzählten Dexet von ihrer Ausbildung, ihren Erfahrungen, aber auch von Zäunen, finanziellen Mitteln und Tierwohl. Dem Bürgermeister wurde schnell klar, dass das Projekt auf soliden Füßen stand – ein Glück, denn verwaltungs- und sicherheitstechnisch waren noch alle Fragen offen. „Das war absolutes Neuland“, erinnert er sich.
Damit das belgische Paar seinen Antrag auf Eröffnung einer Einrichtung abgeben konnte, „die den Vorschriften für in Gefangenschaft gehaltene Wildtiere unterliegt“, änderte der Bürgermeister den Flächennutzungsplan für einen Bereich, in dem bereits eine alte Reithalle stand. „Bei den Fragen etwa zu Baurecht, Versicherung, Gesundheit und Sicherheit bestand meine Aufgabe vor allem darin, gute Ansprechpartner auf regionaler und nationaler Ebene zu finden. Bei einem solchen Projekt winkten viele schnell ab!“, erzählt er.
Auch die Angehörigen des Paares machten sich Sorgen: „Ihr seid doch verrückt! Einen sicheren Job gegen ein so waghalsiges Abenteuer einzutauschen!“ Sofies Eltern waren nicht begeistert, als sie vom Projekt der beiden erfuhren. Die „Abenteurer“ dagegen stürzten sich mit Leib und Seele hinein: Sie tauschten sich intensiv mit Elefantenexperten auf der ganzen Welt aus, reisten in die USA, um in Tennessee ein Elefantenschutzgebiet zu besichtigen und flogen zweimal nach Thailand, wo sie den Elephant Nature Park in der Nähe von Chiang Mai besuchten. Dort arbeitete Tony drei Monate lang ehrenamtlich mit und wurde Mahut, Elefantenführer.
„Freunde, Bankberater, Juristen, alle rieten uns ab“, berichtet Sofie. „Sie hielten es für unwahrscheinlich, dass wir jemals Elefanten bekommen würden. Denn Zoos, Zirkusbetriebe und Schutzgebiete haben kein sehr gutes Verhältnis untereinander.“ Doch das Vorhaben, das sich von anderen durch seine Originalität und seine Sorge um die Tiere unterschied, zog zahlreiche Spender aus nah und fern an, wohlhabende und weniger wohlhabende.
In Großbritannien sammelte Louise Stringer 400 Euro, indem sie am Great Birmingham Run teilnahm. Aus Belgien schickte ihnen eine Spenderin nach dem Verkauf ihres Hauses 50.000 Euro. Ein Fachbetrieb für Fahrzeug-Elektrifizierung aus den Niederlanden stellte ihnen zwei Geländewagen zur Verfügung. Und in Frankreich spendete eine Tierschutz-Stiftung 350.000 Euro für den Bau von Ställen.
Die Bauarbeiten begannen im Mai 2018. Neben den Handwerkern aus Bussière-Galant und Umgebung fand sich eine große Schar freiwilliger Helfer ein, um Fensterrahmen zu schweißen, Weiden einzuzäunen, Blumen und Bäume zu pflanzen, Brennholz zum Heizen der Ställe zu hacken und vieles mehr. Die Spenden, der Einsatz der Freiwilligen und die Energie von Sofie und Tony versetzten Berge.
Im Frühjahr 2020 kauften sie die ersten 120 von insgesamt 320 Tonnen Sand. Damit streuten sie die Ställe ein und schütteten Hügel auf, die Elefanten gern als Stütze nutzen, wenn sie sich ausruhen und wieder aufrichten wollen. Im Sommer fand die letzte tierärztliche Kontrolle statt. Alles war in Ordnung und bereit, die ersten Bewohner aufzunehmen. Doch inzwischen wütete die Coronapandemie, und das Paar musste sich weiter gedulden.
„Das machst du toll, Gandhi!“
Am 14. Oktober 2021, gegen 22 Uhr und nach 500 Kilometern Fahrt, kommt die Elefantenkuh Gandhi an ihrem neuen Wohnort an. Noch zögert sie, die Ladefläche des Lastwagens zu verlassen. Tony spricht ihr aufmunternd zu. Langsam erkundet das Tier seine neue Umgebung, von der es an diesem Abend nur die Innenanlage sehen wird.
Manche Boxen sind mit Sand eingestreut, andere haben einen Betonboden oder sind mit einem weichen Gummi ausgelegt, was die Gelenke der Tiere schont. Als Gandhi auf die Bambuszweige zugeht, die dort für sie liegen, und einen davon genüsslich verzehrt, atmen Tony und Sofie erleichtert auf. Die Elefantenkuh hat ihr neues Zuhause akzeptiert.
Gandhi stammt aus dem Zoo von Pont-Scorff in der Bretagne. Dort war sie unglücklich und bewegte sich kaum noch. Der Zoo hatte finanzielle Schwierigkeiten, wechselte wiederholt den Besitzer und wurde zwangsverwaltet. Die neuen Besitzer wandten sich schließlich an die Tierärztin Florence Ollivet-Courtois. Diese schlug vor, Gandhi an den Elephant Haven abzugeben. Tony verbrachte drei Monate in der Bretagne, um Vertrauen zu Gandhi aufzubauen. „Ein Umzug solcher Tiere ist nicht einfach, weil sie eine besondere Beziehung zu ihren Menschen haben“, erklärt die Tierärztin. „Trennungen sind immer schwierig, vor allem für Zirkustiere.“
Für Elefanten ist ein Leben ohne Artgenossen nur schwer zu ertragen. Im August 2022 traf Delhi ein. Wie Gandhi war auch sie allein in einem Zoo: Tony verbrachte zunächst zwei Wochen im Zoo von Ústí nad Labem in Tschechien, bevor er seinen Schützling auf der 30-stündigen Lkw-Fahrt zum Elephant Haven begleitete.
Sechs weitere Elefanten sollen einziehen
Sofie und Tony, die sich ihrer Sache völlig verschrieben haben, reden nicht gern über sich selbst. „Ein wenig vermisse ich mein früheres Leben schon“, räumt Sofie ein. „Die Treffen mit meinen Freundinnen, die Restaurantbesuche, die Läden. Jetzt widmen Tony und ich jede Minute unseres Lebens dem Schutzgebiet.“ Und die Arbeit nimmt weiter zu, denn Elephant Haven wird vergrößert. „Es war nicht einfach, unseren ersten Elefanten zu bekommen“, gibt Sofie zu. „Als wir uns noch nicht bewährt hatten, war kein Elefantenbesitzer bereit, sein Tier in eine ungewisse Zukunft ziehen zu lassen. Doch heute erhalten wir regelmäßig Anfragen von Zoos und Zirkusbetrieben in ganz Europa, die uns ein Tier anvertrauen wollen.“
Die beiden sind dabei, ein über 40 Hektar großes Gehege anzulegen, und bald wird auch ein Unterstellplatz für sechs neue Elefanten gebaut – dieses Mal mit der Unterstützung des französischen Staates. In Frankreich wurde 2021 ein Gesetz erlassen, das den Kauf und die Zucht von Zirkustieren ab 2023 und die Haltung und Mitwirkung von Wildtieren in Wanderzirkussen ab 2028 verbietet. Verboten ist die Wildtierhaltung im Zirkus in Österreich (seit 2005), Griechenland (2012), Belgien (2014) und den Niederlanden (2015). Großbritannien und Schweden sind diesem Beispiel mittlerweile gefolgt.
Auch wenn der französische Staat einen Teil der neuen Gebäude finanziert, läuft der Betrieb von Elephant Haven weiterhin über Spenden. Das Schutzgebiet stützt sich inzwischen auf die finanzielle Hilfe von rund zehn Verbänden und Privatpersonen. „Jeder Elefant kostet 100.000 Euro pro Jahr, und diese Mittel aufzubringen ist eine tägliche Herausforderung“, betont Sofie, die ehrenamtlich für die Einrichtung arbeitet. Tony ist angestellt und bekommt den Mindestlohn.
Nach der Vergrößerung der Anlage haben Tony und Sofie vor, diese für Besucher zu öffnen, unter anderem auch für Schulklassen. „Das wird nicht zum Nachteil der Elefanten sein“, versichert uns die Tierärztin Ollivet-Courtois. „Elefanten sind sehr intelligent und gewohnt, viele Menschen zu sehen. Sie freuen sich über Besucher. Der Corona-Lockdown wirkte sich in den Zoos auch auf ihre Stimmung negativ aus.“ In Bussière-Galant war der Bürgermeister überrascht, dass es keine Widerstände gegen das Elefantenprojekt gab. Im Gegenteil: Die Bewohner zeigten sich interessiert und ein bisschen stolz. Schließlich entstand hier das erste europäische Schutzgebiet dieser Art. Heute freuen sich die Tiere über das Obst und Gemüse, das die Bewohner aus ihren Gärten spenden. Der Elefantenmist – ein hervorragender Dünger – geht an einen Landwirt, der mit seinem Gemüse die Schulkantine des Orts versorgt. Und so bringen sich auch Delhi und Gandhi in die Gemeinde ein.
Es ist 15 Uhr an diesem Frühlingstag. Die Sonne scheint, und Tony bietet den Tieren eine Dusche an. Am ausgestreckten Am hält er einen Schlauch, aus dem eiskaltes Wasser schießt. Delhi kommt näher. Sie scheint begeistert über den Strahl und hält ihm ihre Flanke hin, dann die Rückseiten der Ohren und zum Schluss die Füße, bevor sie sich zu Gandhi umdreht. Erleichtert stellt Sofie fest, dass ihre beiden Rentnerinnen, die sich zunächst aus dem Weg gingen, immer mehr Zeit miteinander verbringen. Sie gehen nebeneinander her, schauen sich an, streicheln sich mit dem Rüssel und trompeten gemeinsam. Bald werden sechs weitere Elefanten eintreffen. „Ob es ihnen hier gefällt?“, fragt sich die Gründerin von Elephant Haven. „Und wird das Geld reichen?“ Das fröhliche Treiben in der strahlenden Sonne schiebt diese Fragen beiseite: „Elefanten sind einfach wunderbar – am liebsten würden wir die ganze Region für sie kaufen!“





