Sieg über den Krebs
Noch vor wenigen Jahrzehnten lagen die Überlebenschancen bei einer Krebsdiagnose nach fünf Jahren bei unter 50 Prozent. Inzwischen beträgt die Rate dank neuer Medikamente und Therapien fast 70 Prozent, mit steigender Tendenz.

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So wurde vor Kurzem ein neuartiges Medikament gegen eine besondere Mutation des Lungenkarzinoms in den USA, Europa und Kanada zugelassen. Und ein neues Chemotherapeutikum gibt Patientinnen mit dem aggressiven, HER2-positiven Brustkrebs neue Hoffnung. Noch mehr Aufmerksamkeit zieht die Immuntherapie auf sich. Weltweit entdecken Forscher neue Möglichkeiten, die körpereigene Immunabwehr im Kampf gegen Krebszellen zu unterstützen. „Wir leben im Zeitalter der Immuntherapie“, sagt Nigel Brockton, Vizepräsident des American Institute for Cancer Research (US-amerikanisches Krebsforschungsinstitut). Ein weiterer Grund zum Optimismus sind die bei der Prävention erzielten Erfolge. Jahrzehntelange Forschung und öffentliche Aufklärung haben das Bewusstsein dafür geschärft, wie sich das Krebsrisiko durch einen gesünderen Lebensstil verringern lässt. Dem US-amerikanischen Gesundheitsinstitut zufolge sind 90 bis 95 Prozent aller Krebserkrankungen nicht auf genetische Faktoren, sondern auf Umstände zurückzuführen, die wir selbst beeinflussen können. Hier einige der neuen „Waffen“ im Kampf gegen den Krebs:
Prävention
HPV-Impfstoff
Früher gehörte der Gebärmutterhalskrebs zu den häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen und war bei ihnen auch die häufigste krebsbedingte Todesursache. In den vergangenen Jahrzehnten führte der Pap-Test dazu, dass diese Krebsart deutlich früher erkannt wurde. Bahnbrechend war dann die Einführung einer Präventivmaßnahme vor rund 15 Jahren: die Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV). Eine Infektion mit diesen Viren soll für mehr als 95 Prozent der Fälle von Gebärmutterhalskrebs verantwortlich sein.
• Nach der Einführung des Impfstoffs in den USA im Jahr 2006 sank die Zahl der HPV-Infektionen bei Mädchen und jungen Frauen um 80 Prozent.
• Eine in der Fachzeitschrift The Lancet Ende 2021 veröffentlichte Studie belegt: In Großbritannien, wo das Immunisierungsprogramm wie auf dem europäischen Festland 2008 startete, trat der Gebärmutterhalskrebs bei Frauen, die nach 1995 geboren und im Alter von 12 oder 13 Jahren geimpft wurden, so gut wie nicht mehr auf.
• Eine schwedische Studie mit 1,7 Millionen Frauen, die 2020 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, zeigt: Bei Frauen, die als Jugendliche geimpft wurden, war das Risiko, an Gebärmutterhalskrebs zu erkranken, um 90 Prozent gesunken. Die Weltgesundheitsorganisation strebt an, dass bis 2030 weltweit 90 Prozent aller Mädchen geimpft sind.
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mRNA-Impfung
Die Impfstoffe gegen das Coronavirus konnten so schnell angeboten werden, weil Forscher mit der Entwicklung von mRNA-Impfstoffen zur Krebsbekämpfung wichtige Vorarbeit geleistet hatten. Diese Impfstoffe verwenden ein speziell programmiertes Molekül, um in den Körperzellen eine Immunantwort zu aktivieren. Im Gegensatz zu den Covid-19-Impfstoffen, mit denen Milliarden Menschen immunisiert wurden, wird jeder mRNA-Krebsimpfstoff gezielt auf den Tumor des jeweiligen Patienten abgestimmt. Zurzeit laufen Dutzende klinische Studien zur Untersuchung ihrer Wirksamkeit gegen verschiedene Krebsarten. „Theoretisch kann dieser individuelle Ansatz für jeden Patienten und bei jeder Krebsart gewählt werden“, erklärt Dr. Patrick Ott, Leiter des Zentrums für personalisierte Krebsimpfstoffe am Krebsforschungszentrum Dana-Farber Cancer Institute in Boston, USA.
Screening
Galleri-Bluttest
Die Krebsfrüherkennung ist nicht immer einfach. Derzeit weit verbreitete Screenings – seit den 1970er-Jahren etwa die Mammografie und seit den 1990er-Jahren die Darmspiegelung – konzentrieren sich auf einzelne Krebsarten. Und bei Blutuntersuchungen werden bestimmte Tumormarker gesucht wie Blutzellenzahl, von Krebszellen erzeugte Proteine und chemische Stoffe. Diese Tests liefern aber keine spezifischen Ergebnisse und werden oft erst dann veranlasst, wenn die Erkrankung bereits durch eine andere Methode entdeckt wurde. Künftig soll der von einem US-amerikanischen Biotechnologie-Unternehmen entwickelte sogenannte Galleri-Test in einer einzigen Blutprobe mehr als 50 Krebsarten entdecken können. Dabei wird das ins Blut gelangte Erbmaterial aus Krebszellen aufgespürt. Es weist auf eine bestimmte Krebserkrankung und Krebsart hin.
Laut einer Studie, die im Juni 2021 in der Fachzeitschrift Annals of Oncology veröffentlicht wurde, war es mit dem Test möglich, Krebserkrankungen in mehr als 50 Prozent der Fälle zu entdecken und die Krebsart mit
89 Prozent Genauigkeit zu bestimmen. Besonders vielversprechend ist der Test bei Bauchspeicheldrüsenkrebs oder Eierstockkrebs – Krebsarten, die oft tödlich verlaufen, weil die Symptome schwer zu erkennen sind und es dafür kein Screening gibt. Galleri ist in den USA auf Rezept erhältlich, in der EU jedoch noch nicht zugelassen. Im Juni 2022 kündigte der britische Gesundheitsdienst NHS eine groß angelegte Studie mit 140.000 Teilnehmern an, um die Wirkung des Galleri-Tests zu erheben.
Behandlung
Enhertu
Obwohl die Sterblichkeitsrate seit 30 Jahren sinkt, ist Brustkrebs in Europa und in den USA immer noch die häufigste Krebserkrankung (mit Ausnahme nicht-melanozytärer Hautkrebsformen). Zu den tödlichsten Arten gehören die Tumore, die das Protein HER2 überproduzieren. 20 Prozent aller Frauen mit Brustkrebs sind davon betroffen. Diese Form wächst und breitet sich schneller aus als andere Brustkrebsarten – und es kann trotz Behandlung eher zu einem Rezidiv (Rückfall) kommen. 2019 wurde ein Medikament mit dem Wirkstoff Trastuzumab-Deruxtecan in den USA, 2021 auch in Europa und Kanada zugelassen. Dieses zielgerichtete Chemotherapeutikum mit dem Namen Enhertu verlangsamt deutlich den aggressiven Verlauf der Erkrankung.
„Das ist sehr wichtig“, erklärt Dr. Rebecca Roylance, Onkologin am University College London Hospital, Großbritannien. „Ein gut verträgliches Medikament verbessert die Lebensqualität der Patientinnen trotz der Belastung durch die Erkrankung und die Therapie“. Das Medikament wird gezielt zu den HER2-Tumorzellen transportiert, um diese zu zerstören. Enhertu setzt mehr als doppelt so viel Wirkstoff frei wie herkömmliche Chemotherapien. Eine im New England Journal of Medicine im Juli veröffentlichte internationale Studie belegt: Mit Enhertu behandelte Patientinnen wiesen durchschnittlich zehn Monate lang kein Tumorwachstum auf im Vergleich zu rund fünf Monaten bei Patientinnen, die mit herkömmlichen Therapien behandelt wurden.
Lumykras
Lungenkrebs ist die tödlichste Krebsart in Europa und führt zu rund 20 Prozent aller krebsbedingten Sterbefälle. Bis vor Kurzem gab es keine Medikamente gegen Lungenkrebs mit der KRAS-G12C-Mutation. Diese führt zu einer unkontrollierten Vermehrung der Tumorzellen und betrifft rund 13 Prozent der Patienten mit der häufigsten Lungenkrebsart, dem kleinzelligen Lungenkarzinom. Bislang war die einzige Behandlungsform eine weitere Chemotherapie, die den Betroffenen höchstens ein paar Monate mehr Lebenszeit verschaffte. Ein neues Medikament mit KRAS-Hemmern könnte diese Prognose nun ändern.
Vielversprechend sind die Ergebnisse einer Phase-I-Studie, die im Juni 2021 in der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden. Patienten, die bereits eine Chemo- und eine Immuntherapie erhalten hatten, nahmen täglich eine Tablette Sotorasib (wurde in Europa unter dem Handelsnamen Lumykras unlängst zugelassen). Bei rund 40 Prozent der Probanden schrumpfte der Tumor um mindestens 30 Prozent. Nach den neuesten Angaben überlebt ein Drittel der Patienten auch das zweite Jahr nach Beginn der Therapie. „Das gibt Krebskranken mit einer schlechten Prognose Hoffnung“, sagt Dr. Ferdinandos Skoulidis, Onkologe am US-amerikanischen MD Anderson Krebszentrum der University of Texas, und Hauptautor der Studie. „Es ist eine immens wichtige Entdeckung.“
Immuntherapie
Die Immuntherapie zielt darauf ab, Zellen im körpereigenen Immunsystem so zu verändern, dass sie Krebszellen erkennen und bekämpfen. Dieses knapp zehn Jahre alte Forschungsgebiet dominiert bereits die Krebsforschung: Derzeit laufen rund 5000 Immuntherapie-Studien weltweit. „Dank der Immuntherapien hat es in den letzten Jahren bei der Behandlung mehrerer Krebsarten revolutionäre Entwicklungen gegeben“, berichtet Dr. Marco Donia vom Krebszentrum für Immuntherapie in Dänemark. Das Forschungsgebiet ist so wichtig, dass der Nobelpreis für Medizin 2018 an die Immunologen James P. Allison, USA, und Tasuku Honjo, Japan, ging. Ausgezeichnet wurden sie für ihre Entdeckung der Immun-Checkpoint-Inhibitoren (ICI) – heute stehen diese Moleküle im Zentrum der häufigsten Immuntherapien gegen Krebs.
Die größten Erfolge zeigen sie bei Lungen-, Haut- und einigen Darmkrebs-Erkrankungen. Die Wirkung der Immun-Checkpoint-Hemmer kann noch lange nach Beendigung der Therapie andauern. Eine 2021 in der Fachzeitschrift Cancers veröffentlichte Übersicht über die Fortschritte in der Behandlung von schwarzem Hautkrebs zeigt, dass eine Kombinationstherapie mit ICI bei mehr als der Hälfte der Patienten mit metastasiertem Melanom zu langfristigem Überleben führt.
„Zum ersten Mal erleben wir, dass solide Krebstumore mit einer durchschnittlich sechsmonatigen Überlebensrate so gut wie geheilt werden“, sagt Dr. Donia. Solide Krebstumore sind feste Zellhaufen im Gegensatz zu „flüssigen“ Krebsarten des blutbildenden Systems.
Eine weitere Immuntherapie, die sogenannte CAR-T-Zell-Therapie, ist ebenfalls vielversprechend. Bei der erstmals 2017 eingesetzten personalisierten Immuntherapie werden zunächst T-Zellen aus dem Blut des Patienten gefiltert. Diese Zellen spielen bei der Abwehr von Krankheitserregern eine wichtige Rolle. Die gewonnenen T-Zellen werden gentechnisch so verändert, dass sie ein bestimmtes Krebsprotein erkennen und ansteuern. Dann werden sie über eine Infusion wieder in den Blutkreislauf des Patienten gebracht. Dort greifen sie Krebszellen an und zerstören diese. Die Therapie verlängert die Lebenszeit von Menschen mit Blutkrebserkrankungen nachweislich. Die CAR-T-Zell-Therapie ist für bestimmte Lymphomformen bei Erwachsenen und Leukämieformen bei Kindern und Jugendlichen zugelassen. Doch weil die Therapie auf den einzelnen Patienten abgestimmt ist, wird sie relativ selten eingesetzt und sie ist kostspielig.
In Kanada läuft derzeit eine Studie zu CAR-T-Zellen. Laut Dr. Natasha Kekre, Hämatologin am Ottawa Hospital und Leiterin der Studie, geben die bisherigen Ergebnisse Anlass zur Hoffnung: Bei 13 von 30 Probanden lassen sich keine Krebszellen mehr im Blut entdecken. „Damit werden wir viele Menschen heilen können“, sagt sie.